Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
brauchen.« Er strich ihr sanft über die Wange. »Dein Vater hat sich sein halbes Leben lang bemüht, dich zu beschützen, Maisfaser. Er hat sich mehr als einmal in große Gefahr begeben. Du wirst ihm wahrscheinlich einen gewaltigen Schrecken einjagen, wenn er dich sieht. Sei bitte lieb zu ihm.« Sie nickte. »Versprochen.«
Nordlicht hob den Blick und schaute düster auf die Decke. »Heilige Götter, das habe ich dir alles schon tausendmal in meinen Träumen erklärt. Warum fehlen mir jetzt plötzlich die Worte?« »Nordlicht, bitte! Ist Eisenholz mein Vater?«
Er sah in ihre angsterfüllten Augen, und eine seltsame Klammer schloß sich um seine Brust. »Ja, das ist er. Aber ich muß noch vorher anfangen, Maisfaser. Die Geschichte beginnt fast siebzehn Sommer zuvor. Eisenholz war seit weniger als einem Sonnenkreis der Kriegshäuptling, und Nachtsonne -« »Einen Augenblick.« Maisfaser hob eine Hand. »Bevor du anfängst, solltest du wissen, daß Schlangenhaupt mich besucht hat. Er - er ist einfach unaufgefordert in unser Zimmer geklettert, und er hat gesagt … Er hat mich über Lanzenblattdorf ausgefragt und über ein Mädchen namens Maisfaser. Ich glaube nicht, daß er ganz sicher war, aber er schien doch zu glauben, daß ich Maisfaser wäre. Er sagte, er wolle mit seiner unehelichen Halbschwester reden. Und dann … dann drohte er mir. Er hat mir gesagt, daß ich Krallenstadt nicht verlassen darf.«
Ihm wurde übel. Er senkte den Kopf und schaute mit verzerrtem Gesicht auf den weißgetünchten Boden. »Dann muß ich mich wohl beeilen. Also, hör zu …«
Auf seinem Weg zum vierten Stockwerk nahm Eisenholz zwei Leitersprossen auf einmal. Aufgeschreckt durch seine Hast, erhoben sich die Leute murmelnd auf der Plaza, schirmten ihre Augen gegen die schräg einfallende Nachmittagssonne ab und sahen ihm neugierig zu. Gelbmädchen ging in die Mitte der östlichen Plaza und schaute ihm mißbilligend nach; vermutlich wunderte sie sich, wohin es ihn mit solcher Eile trieb. Ihr blaues Kleid schlug ihr um die Beine. Stechmücke, der über dem Einlaß Wache stand, starrte Eisenholz ebenfalls nach.
Das Blut rauschte so mächtig durch Eisenholz' Adern, daß es ihn am ganzen Leibe kribbelte. Er hatte keine Zeit, sich über die Gedanken der Leute zu sorgen.
Er rannte über das Dach des dritten Stockwerks zur nächsten Leiter, und dabei überschaute er prüfend den Canyon. Die Klippen schimmerten golden gegen den fahlen blauen Himmel. Blauhäher schwärmten über ihm, trillerten und stießen scharfe Räck-räck-räck-Laute aus. An der Außenmauer von Strombettstadt saßen Frauen, die Mais mahlten, und Männer, die vielfarbige Decken webten. Die kühle Brise, die über die Wüste fuhr, brachte neben dem Erdgeruch auch ihr Gelächter heran. Vor Nachtsonnes Tür blieb er stehen. Der Vorhang war heruntergelassen. Er rief: »Nachtsonne? Bist du drinnen?«
»Ja«, antwortete sie. »Einen Augenblick bitte.«
Eisenholz stand breitbeinig da und biß die Zähne zusammen. Stechmücke und Gelbmädchen beobachteten ihn weiter mit gerunzelter Stirn, aber die andern auf der Plaza zerstreuten sich allmählich und machten sich wieder an die Arbeit. Ihm kam es wie eine Ewigkeit vor.
Als Nachtsonne endlich den Vorhang hob und ihn am Zapfen festmachte, schaute er sie verblüfft an. Sie trug ein langes Kleid in der Farbe des Rittersporns; ihr ergrauendes Haar hing ihr lose über die Schultern. Sie roch nach Yucca-Seife und Kiefernnadeln. »Tut mir leid, daß ich dich warten ließ«, sagte sie. »Ich hatte gerade gebadet. Was -«
»Ich muß hereinkommen!«
Nachtsonne sah seinen bestürzten Ausdruck und trat stirnrunzelnd zurück. »Um was geht es? Was ist geschehen?«
Eisenholz trat ein, ließ den Vorhang wieder fallen und stand schwer atmend vor ihr. Sie sah ihm forschend in die Augen. Er sagte: »Nachtsonne … Maisfaser ist hier. In Krallenstadt.« Sie begriff; ihr Gesicht wurde schlaff. »Sie ist hier? Wo? Wo ist meine Tochter? Ich will sie sehen.« Sie wollte zur Tür eilen, und Eisenholz packte sie am Arm.
»Erst mußt du mir zuhören.«
Nachtsonne blickte auf die harte Hand auf ihrem Gelenk. »Fahr fort«, sagte sie.
Eisenholz ließ sie los und holte tief Atem. »Die junge Frau, die mit Sängerling hier ankam, ist unsere Tochter. Sie ist dem Massaker in Lanzenblattdorf entkommen, aber -«
»Den Göttern sei Dank. Geht es ihr gut? Was ist -«
»Aber«, fuhr er mit Nachdruck fort, »noch bevor jemand von uns wußte, wer sie
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