Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
seinem Herzen lauert.«
»Du meinst, er ist viel zu stolz, um ein guter Sänger zu werden?«
»Ich meine, daß der Stolz sein größter Feind ist.« Düne legte sich den Wanderstab über die Knie. »Für manche Sänger ist Wohlstand der Feind, für andere die Verehrung der eigenen Leute. Für Sängerling ist es der Stolz. Immer, wenn er gütige Worte spricht oder liebevoll streichelt, ist's ihm wohl ums Herz. Es gibt ihm tatsächlich ein Gefühl der Überlegenheit. Er ist sehr stolz auf sich, daß er so gütig ist.« Düne packte den Wanderstab so fest, als wollte er ihm das Leben herauspressen. »Wenn Sängerling nicht fleißig und achtsam ist, wird ihm dieser Feind beide Augen herausreißen, so daß er den Nöten seiner Nächsten gegenüber blind ist.«
Eisenholz hob sein Stilett wieder hoch, hielt aber inne, und die Obsidianklinge blieb über dem Holz in der Schwebe. Er warf einen Blick auf die Straße. Eine undeutliche Gestalt in Weiß rannte auf sie zu. »Ein Kurier von Nordlicht - er trägt weiß.« Er verstaute die Klinge und das Stilett in seinem Bündel und schwang es sich über die Schulter.
Düne stand auf. »Kommt er zu uns?«
Der Junge, etwa vierzehn Sommer alt, mit schulterlangem schwarzem Haar und großen dunklen Augen in einem Mondgesicht, war ungewöhnlich groß und muskulös für sein Alter. Schlangenhaupt hatte ihn Nordlicht geschenkt, gleich nachdem Trauertaube ihn geboren hatte.
Eisenholz rief: »Ich grüße dich, Schwalbenschwanz. Suchst du uns? Oder jemand anders?« Die Junge hielt an und beugte sich vor, die Handflächen auf den Knien, und atmete die frische Morgenluft tief ein. Er vermied es, Düne anzusehen, als fürchtete er, der legendäre heilige Mann der Leute vom Rechten Weg könnte ihm seine Feuerhund-Seele rauben. »Kriegshäuptling, du mußt… schnell kommen. Die Gesegnete Sonne… ist schon fast tot. Mein Herr will Düne dabeihaben, wenn es soweit ist, damit der große Heimatlose eingreifen kann… und das Nötige für Körper und Seele der Gesegneten Sonne erledigt.« »Was?« schrie Düne.
Eisenholz wurde rot. Er hatte den ungeöffneten Topf mit gemahlenem Türkis und blauem Maismehl noch in seinem Bündel.
Er drehte sich um. »Düne«, sagte er, »hätte ich dir die heilige Mischung überreicht, dann wärst du nicht gekommen, was immer ich dir auch erzählt hätte, und ich hatte den strikten Befehl von Krähenbart, dich mitzubringen.«
»Du hinterhältiges Lügenmaul! Frecher Hunderotz!« Der Heimatlose, ein Heiliger für vier Generationen von Häuptlingen, humpelte über die heilige Straße, starrte Eisenholz streng an und schlug ihm mit aller Kraft den Wanderstab auf den Hinterkopf.
Schwalbenschwanz kreischte entsetzt auf und lief fort, dorthin, woher er gekommen war; die Beine sausten auf und nieder wie die eines Coyoten in Todesangst. Er schaute dauernd zurück, ob ihm nicht einer der beiden folgte.
Eisenholz rieb sich über die Beule, die sich auf seinem Schädel bildete. »Ich hatte meine Befehle. Es ist deine eigene Schuld, Düne. Du hast mich gezwungen, dich zu täuschen, weil du dauernd gefragt hast, ob Krähenbart schon tot ist.«
Düne leckte sich die runzligen Lippen über dem zahnlosen Mund. Böse blickend, deutete er mit dem Wanderstab auf eine rosafarbene Sandsteinsäule in der Ferne. »Weißt du, was das ist?« »Natürlich weiß ich das«, erwiderte Eisenholz. »Man nennt es Holzfällerpenis.«
Düne kniff ein Auge zu. »Holzfäller war der letzte, der mich getäuscht hat.« Er setzte den Wanderstab fest auf und humpelte los in Richtung Krallenstadt. Das Sonnenlicht brach sich an seinen schütteren weißen Haaren.
Eisenholz' Blick war noch starr auf die rosa Säule gerichtet. »Düne!« brüllte er. »Warte! Ich bin unschuldig! Ich hatte meine Befehle … Düne? Düne, warte!«
Sängerling band seine graue Decke um die Schultern zusammen, ergriff Dünes langhalsigen Wasserkrug neben der Tür und ging geduckt durch den Türvorhang.
Der Sonnenuntergang überzog den Canyon mit Farben. Die Klippen warfen lange Schatten über die Flächen und schwitzten den Duft des Abends aus. Auf den höchsten Kuppen lagen leuchtende Flecken aus Gold wie hingewehte Halstücher. Eine einzelne rosa glühende Wolke schwebte über dem westlichen Horizont.
Sängerling marschierte mit eingefallenen Schultern und gesenktem Kopf und trat nach jedem Beifußbusch, der in den Pfad hineinragte. Er hatte das Fasten nicht gebrochen. Die einzelnen quälenden Hungeranfälle
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