Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
hatten einem überwältigenden Heißhunger Platz gemacht. Selbst die Stengel der winterdürren Melde schienen auf einmal verlockend. Ein verschwommener Schein umgab seine Hungervision, und seine Gedanken schweiften mehr als sonst ab.
»Ich bin schlecht gelaunt«, murmelte er. »Warum bin ich schlecht gelaunt? Ich habe gar keinen Grund, schlecht gelaunt zu sein. Das ist ein großer Augenblick in meinem Leben. Ich lerne bei dem berühmten Sänger Düne, dem Heimatlosen. Da gibt's doch junge Männer, die würden ihr Leben dafür geben, um an meiner Stelle zu sein.«
Er trat gegen einen anderen Strauch. Das Aroma zerfallender Blätter umgab ihn. Er war nicht so verrückt, Beifuß-Blätter zu essen, davon bekam man nur schreckliches Kopfweh. Finken trillerten im Gebüsch, hüpften von Ast zu Ast und beäugten ihn neugierig. Ein Fink jedoch…
»Wahrscheinlich bin ich schlecht gelaunt, weil ich so lange nichts gegessen habe. Wie viele Tage sind das jetzt?« Er spähte hinab auf die schmale Sumpfniederung, wo der Pfad endete. »Meinen letzten Maiskuchen habe ich am Mittag des Tages gegessen, als ich Düne getroffen habe. Wie lange ist das her? Sechs Tage?«
Er hatte den Kontakt zur irdischen Welt verloren und plötzlich sehr merkwürdige Dinge getan … »Ah!« Er stolperte über einen großen schwarzen Felsblock, der im Schatten lag, und fiel aufs Gesicht. Die Sträucher zerkratzten ihm die Wangen und stachen ihn in die Brust. Der Krug war wunderbarerweise nicht zerbrochen, rollte nur zur Seite und wälzte sich auf der bauchigen Seite spöttisch hin und her.
Als er auf die Beine kam, rief er: »Verdammter Stein! Mußt du mir das jeden Abend antun?« Sooft er auch darüber stolperte, er vergaß den Stein immer wieder. In ohnmächtiger Wut trat er nach ihm, nahm den Wasserkrug an sich und humpelte den Pfad hinab.
»Ihr Leben hingeben. Ha! Alles, was ich studiere, ist Dünes Haus. Ich studiere nicht mit ihm. Er ist zwei Tagesmärsche weit weg.« Wut und Sorge kochten in seinem leeren Bauch. Sein Clan erwartete ihn in einem oder zwei Monaten zurück, und zwar als echten Sänger. »Ich sehe das schon vor mir. Ich gehe nach Hause, und jemand sagt, ich soll singen, und ich stehe auf, mache den Mund auf - bloß kommt nichts heraus, weil ich mich immer noch nicht an den Text erinnern kann! Das glaubt mir doch niemand, wenn ich ihnen erzähle, daß ich ankam und Düne verschwand und nie zurückkam. Oder wenn sie's glauben, das wäre ja noch schlimmer.«
Die kleine Wasserrinne schlängelte sich unten um den Abhang herum; sie hatte in zahllosen Sommern im roten Sandstein ein rundes Becken ausgewaschen, in dem sich klares, perlendes Wasser gesammelt hatte.
Sängerling füllte den Krug kniend auf, ließ ihn Vollgurgeln, während sein Blick über die stille Wüste glitt. Er sollte wirklich etwas essen. Das Fasten läuterte vielleicht seine Seele, aber er war sich nicht sicher, ob er nicht irgendwelche unsinnigen Sachen anstellte. Er hatte ausführliche Gespräche geführt: mit weißen Verputzplacken, die von Dünes Haus abgefallen waren, und mit dem Beifuß, der entlang der Mauern wuchs. Erst heute morgen hatte er eine ganze Zeithand lang die Feuergrube beschimpft, da sie seine Anstrengungen, Tee zu bereiten, zunichte machte, weil die Baumwolle, die er als Zunder benutzte, nicht auf die Funken ansprach. Er hatte die Baumwolle wie jeden Morgen auf die Glut gelegt und so lange geblasen, bis er in Ohnmacht zu fallen drohte. Als er nur ein erbärmliches Schwelen erzielte, war er überzeugt, daß die Feuergrube ihm übelwollte. Was die Feuergrube natürlich abstritt. Sängerling nahm den vollen Krug aus dem Wasser und stand auf. Etwas Wasser schwappte ihm auf die Zehen. Die feuchte Keramik fühlte sich kühl und körnig ans. Das Zwielicht hatte den Himmel in eine taubenblaue Kuppel verwandelt. Die roten Canyon-Wände hatten sich purpurn gefärbt. In der Frühe würde das seichte Becken mit einer dünnen Eisschicht bedeckt sein. Sängerling atmete tief ein. Je dunkler es wurde, um so stärker spürte man den Geruch des Wassers. Bald würden Pumas, Luchse und Coyoten dieser Witterung folgen und hierher zur Tränke kommen. Er machte sich auf den Heimweg.
Als der Abend einfiel, senkte sich eine übernatürliche Stille auf die Wüste. Die Vögel verstummten und suchten sich ihren Ruheplatz auf den Kakteen, die weichen grauen Federn der Wärme wegen aufgeplustert. Der Windjunge, der den ganzen Tag zügellos herumgetobt hatte, zog sich
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