Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
jedesmal aufgeblüht. Nach ihrer letzten Nacht war sie verzweifelt in ihn verliebt gewesen, und diese Erkenntnis hatte ihr beinahe das Herz gebrochen.
Sie betrachtete das Türkismesser und die polierte Schneide, die ein Meister zurechtgeschliffen hatte. Der Griff stammte aus einem Hirschgeweih.
Siebzehn Sommer lang hatte sie Eisenholz' Lachen und den Blick seiner Augen in einer geheimen Kammer ihrer Seele lebendig gehalten. Wenn Krähenbart sie beleidigt und erniedrigt oder die Kinder geschlagen hatte, waren diese kostbaren Erinnerungen ihre Zuflucht gewesen.
Sie blickte durchs Fenster. Der rote Felsenschopf auf der Großen Säule leuchtete im schräg einfallenden Morgenlicht auf. Obendrauf hatten goldene Adler ein riesiges Nest aus Wacholderzweigen auf dem Kopf gebaut. Das Weibchen saß in der Mitte, den Schnabel unter die Flügel gesteckt, und schlief in der warmen Sonne. Was sie nicht dafür geben würde, wenn … Ein Schatten fiel durch das Zimmer, und über ihre Schulter blickend sah sie Eisenholz in der Tür stehen. Beklommenheit drückte sie nieder. Er lächelte, aber es war ein gekünsteltes Lächeln. Nach der vorigen Nacht war das verständlich. Er trug ein rotes Hemd und schwarze Leggings und Sandalen. Sein ergrauendes Haar hatte er aus seinem ovalen Gesicht gezogen und mit einem geflochtenen Yucca-Bindfaden zurückgebunden. Er sagte: »Ich wollte mich nur vergewissern, daß alles in Ordnung ist.«
Nachtsonne wandte sich ihm zu, das Messer ans Herz gedrückt. Er sah es und betrachtete sie teilnahmsvoll.
»Ich bin wie taub, Eisenholz. Ich kann nicht mehr richtig denken. Es kommt mir vor, als wären meine Hände und Füße gebunden, und ich könnte mich in keine Richtung mehr sehr weit bewegen.« »Es ist soviel geschehen, Nachtsonne. Du brauchst Zeit, um das alles zu verarbeiten.« Sorgfältig verstaute sie das Messer wieder zwischen den Falten der Decke ihrer Großmutter in den blau-weißen Korb und legte den Deckel drauf. »Auch mit viel Zeit, glaube ich, würde ich das sicher nicht vergessen. Mein Mann ist gestorben. Ich hasse meinen Sohn. Meine schöne Tochter ist tot. Und ich weiß nicht, warum jemand sie … umbringen wollte.« Sie rieb sich über die zugeschnürte Kehle. »Ich versuche die ganze Zeit festzustellen, was von meinem Leben übriggeblieben ist.« Er holte tief Luft, entschied sich aber offenbar dazu, nichts zu sagen. Nachtsonne ging zu ihm und lehnte ihre Schulter an die Wand neben ihm. »Was ist los?«
Eisenholz' schräge Brauen senkten sich über die flache Nase. Seine mattgoldene Haut wirkte flachsfarben in dem Licht. »Der junge Schwalbenschwanz ist gestern abend zurückgekehrt und meldete, daß Dünes Lehrling, Sängerling, mit Dünes Bestattungsbündel hierher unterwegs ist. Düne wird einen oder zwei Tage brauchen, um Krähenbarts Leichnam vorzubereiten.« Er schaute ihr forschend in die Augen. »Nordlicht wollte wissen, ob du den Leichnam auf dem Weg nach Süden begleiten willst. Schlangenhaupt führt die Prozession an.« Nachtsonne ballte die Fäuste, als ob sie damit ihre aufgewühlten Empfindungen so lange unterdrücken könnte, bis sie fähig wäre, ihren weiteren Weg klar zu sehen. »Und Nordlicht meinte, ich möchte vielleicht nicht vier Tage lang mit meinem Sohn zusammen auf der heiligen Straße sein.«
»Es ist nicht nötig, Nachtsonne. Ehrwürdige Mütter gehen selten mit. Es könnte auch gefährlich werden. Eine Prozession ist für Räuber leicht auszumachen.« Sie rieb sich die Stirn. »Und… da ist noch etwas«, fügte er sanft hinzu.
Nachtsonne schaute hoch.
»Erinnerst du dich, daß ich dir erzählt habe, ich wollte nach Lanzenblattdorf gehen und nach Maisfaser suchen, sowie sich hier alles beruhigt hat?«
»Ja.«
Er öffnete den Mund, aber es kamen keine Wörter heraus, als ob er mit sich kämpfte. Er faltete die Arme fest über der Brust. Es dauerte eine Weile, bis er endlich sagte: »Ich wollte dich fragen … ob du Lust hast, mitzukommen.«
Nachtsonne holte tief Luft. In der letzten Nacht waren Gefühle wach geworden, die sie erschreckten. Aber vor langer Zeit hatte sie eine Grenze überschritten, bei der es kein Zurück mehr gab, und sie war in der vorigen Nacht schon soweit darüber hinweggelaufen, daß sie die Grenzlinie gar nicht mehr sah. Mitkommen? Oh, wenn sie nur könnte. Sie wollte mit ihm gehen, aus ganzem Herzen. Wäre sie dreißig Sommer alt gewesen, sie hätte sofort, im selben Augenblick, ihre Sachen zusammengepackt. Aber nun stand sie
Weitere Kostenlose Bücher