Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
war?«
»Ja«, antwortete die andere Frau. »Ich war unten am See und habe gefischt, als Zaunkönig ihrem Onkel das Abendessen brachte. Ich sah sie das Essen vor ihn hinstellen und dann im Wald verschwinden, um Feuerholz zu sammeln. Ich wartete, dass sie zurückkehrte, denn ich wollte mit ihr über das Falschgesicht-Kind sprechen. Aber sie tauchte nicht mehr auf.«
»Dann lass uns herausfinden, ob ihre Familie weiß, wo sie abgeblieben ist.«
Der Türvorhang schwang zur Seite und enthüllte die beiden Silhouetten von Siebenstern und Eistaucher, die im silbernen Rahmen des zum Eingang hereinscheinenden Mondlichts standen. Siebensterns weißes Haar säumte den Rand ihrer Kapuze, doch ihr Gesicht lag im Schatten. Eistaucher hatte sich das Haar als Zeichen ihrer Trauer abgeschnitten, und nur ihre Muschelohrringe blitzen auf, als sie sich durch den Eingang duckte.
Als Siebenstern den Kriegsführer in der Ecke entdeckte, strafften sich unwillkürlich ihre Schultern, und ihr Blick sprühte Zornesfunken.
»Warum versteckst du dich, Springender Dachs?« herrschte sie ihn an und zeigte mit der Spitze ihres langen Gehstocks auf seine Brust. »Komm raus aus dem Schatten, damit ich dich sehen kann! Es hat sich etwas ereignet, dem wir nachgehen müssen.«
Springender Dachs trat zögernd vor sie hin. Die alte Frau reichte ihm gerade einmal bis zur Brust. »Was ist geschehen, ehrenwerte Anführerin?«
»Eistaucher hat mich aus meinen süßen Träumen geweckt, um mir mitzuteilen, dass dein Vetter, Blauer Rabe, verschwunden ist.«
»Verschwunden? Wohin? Warum?«
»Um das herauszufinden, bin ich gekommen. Ich muss sofort mit Frost-auf-den-Weiden sprechen.« »Frost-auf-den-Wei…den!«, rief Springender Dachs. »Anführerin Siebenstern möchte mir dir sprechen!«
Am Entgegengesetzten Ende des Langhauses hob sich ein Deckenberg und eine verschlafene Stimme rief zurück: »Siebenstern? Was gibt es so Wichtiges mitten in der Nacht?«
Nach und nach wurde das gesamte Langhaus munter; im diffusen Licht sah man Leute unter ihren Decken hervorkriechen, sich aufsetzen oder zumindest den Kopf heben, um zu sehen, was da vor sich ging.
Siebenstern schob ihre Kapuze in den Nacken und durchquerte leise das Langhaus. Springender Dachs folgte ihr, den Bogen in der rechten Hand. Vor Frost-auf-den-Weidens Nachtlager blieb sie stehen. »Wo ist dein Sohn?«, verlangte sie ohne Umschweife zu wissen.
»Du weißt so gut wie ich, wo er ist. Auf dem Lost Hill, wo sonst?«
»Nein, da ist er eben nicht. Und wo ist deine Enkeltochter?«
»Zaunkönig? Das weiß ich nicht. Eigentlich sollte sie zurückkommen, nachdem sie ihrem Onkel das Essen gebracht hat, aber sie ist noch nicht wieder da.«
»Und du hast niemanden ausgeschickt, um sie zu suchen?«
»Warum sollte ich? Zaunkönig streift oft allein durch die Gegend. Das weißt du doch, Siebenstern. Und sie kommt immer zurück, allerdings lässt sie sich mitunter reichlich Zeit« Frost-auf-den-Weiden zog sich die Decke bis unters Kinn. »Sprich in deutlichen Worten, Siebenstern. Beschuldigst du meinen Sohn eines Vergehens?«
»Blauer Rabe und Zaunkönig sind verschwunden, und das Falschgesicht-Kind ebenfalls.« Springender Dachs stieß einen erstickten Laut aus und machte einen Schritt auf Siebenstern zu. »Der Junge ist weg?«
»Ja, er ist weg.«
Frost-auf-den-Weiden machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Ach, vielleicht ist der Junge endlich gestorben, und Blauer Rabe und Zaunkönig haben seine Leiche zum See getragen, um sie zu waschen, bevor sie sie zurück ins Dorf bringen. So verlangt es die Sitte. Habt ihr schon unten am Seeufer nachgesehen?«
»Noch nicht. Aber das werden wir«, antwortete Siebenstern. »Ich wollte zuerst mit dir sprechen. Ist das die einzige Erklärung für ihr Verschwinden, die dir einfällt?«
»Ja, gewiss doch! Ich habe Blauer Rabe seit sechs Tagen nicht gesehen, und Zaunkönig ist so unberechenbar wie die liebe Windmutter. Aber wenn beide verschwunden sind, so sind sie sicherlich zusammen.«
Bogen schepperten gegen Köcher, als die Krieger nach ihren Waffen griffen und sich zum Aufbruch vorbereiteten. Die plötzliche Betriebsamkeit weckte die Säuglinge auf, die alle gleichzeitig zu weinen begannen.
Siebenstern stützte sich auf ihren Gehstock. Im rötlichen Schein des Feuers ragte ihre Hakennase wie ein Adlerschnabel aus dem runzligen Gesicht, und ihr graues Haar erinnerte an staubige Spinnweben. »Mein erster Gedanke war der, dass dein Sohn und deine
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