Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
beide töten, das Kind schnappen und damit abhauen?
Aschenmond seufzte erleichtert auf, als sie von dem schlüpfrigen Weg endlich wieder auf Gras trat. Blauer Rabe blieb stehen und stützte die Hände auf die Hüften. Während er den Blick über das Tal schweifen ließ, sagte er: »Ich hatte ganz vergessen, wie schön dieses Land ist.«
»Du warst schon einmal in dieser Gegend?«, meinte Sperling verwundert und sog tief den würzigen Duft von nassem Gras und feuchtem Moos ein.
»Ja, vor vielen Wintern. Auf einem Kriegszug.«
Aschenmond trat nach einem Stein und bemerkte spitz: »Und wie viele meiner Leute hast du dabei getötet?«
Blauer Rabe sah sie über die Schulter hinweg an. Seine sanften braunen Augen verengten sich. »Ich habe welche getötet, Anführerin.«
»Und du weißt nicht mehr, wie viele es waren?«
»Zwei«, antwortete er leise, aber deutlich.
»Na ja, wenigstens habe ich keinen Stolz in deiner Stimme gehört«, sagte Aschenmond. »Aber auch kein Bedauern.«
Vor dem Hintergrund des stahlblauen Abendhimmels wirkte sein ovales Gesicht noch weicher als sonst, beinahe weiblich. »Es steht mir nicht zu, die Befehle meiner Klan-Ältesten zu bedauern, geehrte Anführerin. Ich habe meine Pflicht gegenüber meinem Volk erfüllt. Würdest du es gut heißen, Wenn deine Krieger sich dafür schämten, ihr Volk zu verteidigen?«
»Was hast du gefühlt, als deine Anführerinnen dich dazu auserwählten, bei Polterer Wache zu sitzen?«, fragte Aschenmond. »Hast du dabei auch dein Volk verteidigt?«
Blauer Rabe blickte zu Boden. Eine Windbö wirbelte ihm das graue Haar ums Gesicht. »Sie haben mich nicht ausgewählt, Anführerin. Ich habe um diese Aufgabe gebeten.«
»Du hast darum gebeten, ein Kind sterben zu sehen?«
»Ja, das habe ich. Der Junge hatte schreckliche Angst. Und ich versprach ihm, ihn nicht allein zu lassen.«
Seine sanften, verletzlichen Augen waren von einer Traurigkeit erfüllt, die das Vertrauen seines Gegenübers gleichsam erzwang. Ehrwürdige Ahnen, dieser Mann ist wahrscheinlich noch gefährlicher als alle Krieger, die ich kenne.
Sperling nahm sein Bündel ab. »Ich glaube, es ist Zeit, unser Lager aufzuschlagen. Es wird gleich dunkel, und wir sind alle müde.«
Blauer Rabe wandte seinen Blick von Aschenmonds versteinerter Miene ab und meinte: »Ich bin auch dafür. Wenn ihr genug Vertrauen in mich besitzt, mich für einen kurzen Moment aus den Augen zu lassen, bin ich gern bereit, Holz für unser Abendfeuer zu sammeln.«
»Mein Vertrauen in dich geht zwar nicht so weit, dass ich dich aus den Augen ließe, doch wäre es uns eine Hilfe, wenn du hier in unserem Sichtkreis Holz sammeln würdest. Bleib am Rand der Wiese.« »Wie du wünschst«, sagte Blauer Rabe und ging auf die Baumgruppe am nördlichen Ende der Wiese zu.
Aschenmond sah dem Mann mit einem komischen Gefühl im Bauch hinterher. Als ob man hinter einer Schlange steht. Man weiß nie, wann sie herumfahrt und zubeißt.
»Ein beeindruckender Mann, nicht wahr?«, bemerkte Sperling, der sich hingehockt hatte und sein Bündel aufzuschnüren begann. Er holte seine Feuergerätschaften heraus und warf Aschenmond ein unsicheres Lächeln zu. »Es fällt einem schwer, ihn nicht zu respektieren.«
Als Aschenmond nicht auf seine Bemerkung reagierte, zog er seine buschigen Augenbrauen über der gebogenen Nase zusammen, machte sich angelegentlich an seinem Reisebündel zu schaffen und kramte Töpfe, Schüsseln und Löffeln heraus. »Was ist denn, Aschenmond?«
Sie tat seine Frage mit einem Kopfschütteln ab.
»So verschwiegen kenne ich dich gar nicht, Aschenmond. Schon gar nicht mir gegenüber. Nun sag schon, was bedrückt dich? Habe ich irgendetwas Falsches gesagt oder getan?«
Ihr Blick war drohend wie eine Gewitterwolke. »Du glaubst immer, dass alles deine Schuld ist, Sperling. Warum denn? Plagt dich ein schlechtes Gewissen? Was hast du getan, wovon ich nichts weiß?«
Er zögerte kurz. »Hoffentlich eine ganze Menge. Es wäre eine grauenvolle Vorstellung, wenn du mich so gut kennen würdest wie ich mich selbst.« Dann fügte er hinzu. »Der Proviant ist in deinem Gepäck.«
»Ich nehme an, ich soll ihn dir geben.« Sie nahm ihren Umhängebeutel ab und reichte ihn ihm. Sperling löste die Lederriemen und suchte das Päckchen mit dem Maismehl heraus. »Morgen müssen wir jagen gehen.«
»Ja, gegen einen saftigen Truthahn oder eine fette Ente hätte ich nichts einzuwenden.« »Dann fang schon mal an zu beten. Um diese
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