Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
aus.«
Blauer Rabe erhob sich ebenfalls und stemmte die Hände in die Seiten. »Daraus schließe ich, dass du ihr nicht richtig zuhörst, Zaunkönig. Du musst diese Dinge lernen, zu deinem Besten und auch zum Wohl unseres Klans. Stell dir vor, man überfiele unser Dorf und du wärst die einzige Überlebende, die sich um die Kranken und Verletzten kümmern kann. Wenn du in deiner Unterrichtszeit nur tagträumst, wirst du nicht in der Lage sein, ihnen zu helfen. Sie würden sterben, und wessen Schuld wäre das dann?«
Zaunkönig bohrte die Spitze eines Mokassins in den Boden. »Die Schuld derjenigen, die sie verwundet haben.«
Blauer Rabe musste sich ein Schmunzeln verbeißen.
»Verzeih mir, Onkel«, murmelte Zaunkönig kleinlaut. »Ich werde es versuchen. Ich verspreche es. Aber erzählst du mir dann später, was du bei Moosschnabel und Schädelkappe herausgefunden hast? Ich möchte wissen, ob das Falschgesicht-Kind ein Mörder ist.«
Blauer Rabe gewahrte den seltsamen Unterton in ihrer Stimme. »Willst du das aus einem besonderen Grund wissen?«
»Na ja, irgendwie scheint er mir gar nicht so böse zu sein, Onkel. Das ist alles.«
»Du hast ihn doch nur für einen Augenblick gesehen, Zaunkönig. Er könnte…« Als ihr die Röte in die Wangen schoss, musterte er sie mit einem strengen Blick. »Oder …«
»Onkel, ich… Erinnerst du dich, dass ich Gauner versprochen habe, ihn heute zu besuchen?« »Gelobt sei Fallende Frau!«, brüllte er. »Trotz dreier Toter und den strikten Anordnungen von Anführerin Siebenstern hast du es gewagt…«
»Ich musste zu ihm gehen! Gestern Nacht hat Gauner mich in meinen Träumen gerufen. Und ich habe es ihm versprochen!«
Als Blauer Rabe sah, dass ihre Augen in Tränen schwammen, verkniff er sich die Worte, die ihm auf der Zunge lagen. Obwohl ihr Volk bei besonderen Gelegenheiten Hundefleisch aß, wurden Hunde als Haustiere liebevoll umsorgt. Viele ihrer heiligen Legenden handelten von tapferen Hunden, die Menschen vor dem sicheren Tod gerettet hatten. Und Zaunkönig hatte Gauner geliebt. Drei Monde lang hatte Blauer Rabe um Zaunkönigs Mutter - die seine Schwester war - so getrauert, dass er nicht in der Lage gewesen war, sich so um seine kleine Nichte zu kümmern, wie sie es verdient hätte. Nur Gauner war ihr in ihrem Kummer beigestanden.
Blauer Rabe legte ihr versöhnlich die Hand auf den Rücken. »Du hättest verletzt werden können, oder Schlimmeres, Zaunkönig. Was glaubst du, wie mir da zumute gewesen wäre? Du bist die Wärme, die mein Herz am Schlagen hält. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren. Bitte, geh nicht wieder dorthin. Nicht, bis wir mehr über das Falschgesicht-Kind wissen.« Er führte sie zur Tür, seine großen Schritte ihren kleinen anpassend.
Nachdem er den Türvorhang hochgehoben hatte, traten sie ins Freie, dann ließ er ihn rasch wieder fallen. Eisiger Wind empfing sie. In der vergangenen Hand Zeit war drei Finger hoch Schnee gefallen. Bis zur Dämmerung würde es doppelt so viel sein, überlegte Blauer Rabe.
»Hat das Falschgesicht-Kind irgendetwas zu dir gesagt?«
»Nein«, antwortete sie spontan, besann sich dann aber und fügte hinzu: »Na ja, er…er hat gesagt, dass er glaube, etwas sei mit seiner Mutter passiert.«
Blauer Rabe steuerte auf den Pfad zu, der hinunter zum Dorf führte, Zaunkönig an seiner Seite. Schneeflocken umwirbelten sie so lautlos wie weiße Daunen, während sie dem zugeschneiten Pfad folgten. »Und, was hast du darauf geantwortet?«
Nach einer langen Pause sagte sie: »Ich antwortete, dass sie wahrscheinlich tot wäre. Aber jetzt wünschte ich, ich hätte so etwas nicht gesagt, Onkel. Er hat geweint. Er hat schrecklich geweint. Wie ein richtiger Junge aus Fleisch und Blut.«
Sachte legte Blauer Rabe ihr die Hand auf den Kopf. Obwohl es ihn manchmal zur Weißglut trieb, dass sie jede Anordnung, die er oder jemand anders ihr gab, in Frage stellte, musste er zugeben, dass sie sich sehr viele Gedanken über die Welt um sie herum machte. Sie würde eines Tages eine großartige Dorfvorsteherin abgeben, wie seine Schwester, wenn sie noch am Leben wäre. »Erinnere dich morgen daran, Zaunkönig, wenn du in der Dorfversammlung aufgefordert wirst, deine Meinung kund zu tun.« »Ja, Onkel.«
Er streichelte ihr über das schwarze Haar. »So, und jetzt erzähl mir von Gauner. Was hast du ihm heute mitgebracht? Wieder einen Knochen? Oder ein Spielzeug?«
Sie hob den Kopf und lächelte ihn an. »Ein Spielzeug.
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