Voyeur
Latein am Ende.
Das Essen vollzog sich nun in absoluter Stille, in der nur die Geräusche des Bestecks zu hören waren. Allein Martys Vater
wirkte dabei so gleichgültig, als wäre er eine solch unangenehme Stimmung gewöhnt. Was ich mir bei seinen schlechten Manieren
gut vorstellen konnte.
«Kaffee?», fragte Anna nach dem Dessert. Westerman hatte als Letzter aufgegessen und sich sorglos seine Zeit genommen, während
Anna und ich dasaßen und auf ihn warteten. Ich rechnete damit, dass er ablehnte. Er schien wenig Grund zum Bleiben zu haben.
Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. «Schwarz, ohne Zucker.»
«Ich helfe Ihnen, den Tisch abzuräumen», sagte ich zu Anna.
Kaum war die Küchentür zu, lehnte sie sich gegen die Wand und atmete aus. «Gott. Es tut mir wirklich leid. Wenn ich gewusst
hätte, dass es so schlimm wird, hätte ich Sie nie eingeladen.»
|233| «Unsinn. Niemand sollte diesen Mann einen ganzen Abend allein ertragen müssen.»
«Aber es ist nicht Ihr Problem. Sie hätten das nicht hinnehmen müssen.»
«Sie auch nicht. Und schließlich wusste ich ja, was für ein Typ er ist, als ich die Einladung angenommen habe.» Ich versuchte,
es mit Humor zu nehmen. «Außerdem ist es eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Man isst nicht jeden Tag mit dem unangenehmsten
Menschen der Welt zu Abend.»
«Er ist nicht besonders amüsant, oder?»
«Eher nicht.» Wir grinsten uns verschwörerisch an.
«In solchen Momenten bereue ich es immer, dass ich kein Rattengift im Haus habe. Meinen Sie, er würde es merken, wenn ich
etwas in seinen Kaffee tun würde?»
«Er vielleicht nicht, aber jeder andere würde es für eine eindeutige Verbesserung halten.»
Wir begannen zu kichern, bemüht leise, damit man uns im Nebenzimmer nicht hörte. Plötzlich ging die Tür auf. Westerman starrte
uns kalt an.
«Störe ich?»
Annas Lachen erstarb sofort. Aber als sie sich die Tränen aus den Augen rieb, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen.
«Nein, überhaupt nicht. Entschuldigen Sie, wir haben nur …»
«Ich habe ihr gerade etwas erzählt, was in der Galerie passiert ist», erklärte ich, um sie zu retten.
Nachdem Martys Vater erst mich und dann Anna angeschaut hatte, blickte er beim Sprechen wieder ins Leere. «Ich wollte nur
sagen, dass Sie sich meinetwegen keine Mühe mit dem Kaffee machen müssen. Es ist schon spät. Wenn Sie mir |234| ein Taxi rufen würden, lasse ich Sie allein, und Sie können in aller Ruhe Ihre Anekdoten austauschen.»
Anna versuchte, ihn pro forma umzustimmen. «Wollen Sie nicht noch auf eine Tasse bleiben?»
«Nein danke.» Er drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Wir folgten ihm. Während Anna ein Taxi rief, stand er mitten
im Zimmer.
«Übrigens», sagte er, nachdem sie aufgelegt hatte, «ich habe heute mit der Universität gesprochen. Ich habe den zuständigen
Leuten dort gesagt, dass jemand anders Martys Büro benutzen kann. Sie haben angeboten, es für ihn frei zu halten, aber
ich habe ihnen gesagt, dass das nicht nötig ist. Ich sehe keinen Sinn darin, wenn er nicht einmal den Anstand hatte, ihnen
Bescheid zu sagen, dass er weggeht.»
Anna sah entsetzt aus. «Das können Sie nicht tun!»
«Ich habe es bereits getan.»
«Aber was ist mit seinen Büchern? Und seiner Forschungsarbeit? Seine ganzen Unterlagen und Notizen sind dort! Einfach alles!
Was passiert damit?»
Westerman ließ sich von Annas Bestürzung nicht rühren. «Ehrlich gesagt, es ist mir egal. Wenn Marty bald zurückkommt, kann
er alles einfordern. Oder Sie holen die Sachen ab, wenn Sie wollen. Sollte nicht irgendein mitfühlender Kollege beschließen,
sie für ihn aufzubewahren, werden sie sonst wohl weggeworfen. Das habe ich ihnen jedenfalls geraten.»
«Dazu hatten Sie kein Recht!» Anna war rot geworden.
«Ich habe jedes Recht. Ich bin sein Vater. Wenn Marty unverantwortlich sein will, dann liegt es an mir, seine Angelegenheiten
nach meinem Gutdünken zu klären, ob es Ihnen gefällt oder nicht.»
|235| «Aber in diesen Sachen stecken drei Jahre harte Arbeit! Mehr noch!»
«Wenn sie so wichtig sind, hätte er nicht einfach weglaufen dürfen. Er kann kaum erwarten, dass fremde Leute darauf aufpassen,
bis er sich entscheidet, wieder zurückzukommen. Wenn ich der Leiter seiner Abteilung wäre, hätte ich schon längst alles
verbrannt. Aber dafür sind diese Leute wohl zu liberal.»
«Ich kann nicht glauben, dass Sie es ernst meinen!»
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