VT04 - Zwischen Leben und Sterben
freigegeben, heute hat sie einen Termin im Krematorium. Hier ist die Telefonnummer der Witwe. Hast du was zum Schreiben?«
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Köln, 24. August 2009
Der Bürgersteig verlief auf halber Höhe des Schaufensters. Von durchschnittlich großen Fußgängern sah man von der Ladentheke aus nur die Beine. Selten blieb einer stehen, um die Tiere zu betrachten. Meistens waren es Kinder.
Ohrenbetäubende Musik tobte aus der offenen Tür zur Küche. Lupo steckte die Pfeife zwischen die Zähne und beugte sich über die neuen Tiere. Die Schlange, eine ungewöhnlich große Kreuzotter, wand sich um den Hals der Bisamratte und fixierte das schöne Pelztier mit stechendem Blick. Die Bisamratte ihrerseits riss den Rachen auf und bleckte die Nagezähne, als wollte sie die gelben Spitzen jeden Moment in den Schlangenleib schlagen. Doch weder die Kreuzotter noch der kaninchengroße Pelzträger bissen zu, nichts geschah, nur eine Rauchwolke hüllte die beiden Tiere ein; sie und die Attrappe des bemoosten Steines, auf dem die Bisamratte festgeschraubt war.
In Lupos Phantasie allerdings geschah eine ganze Menge: Da schnappte die Bisamratte als erste zu. Die Schlange zuckte im letzten Moment zurück, und legte die nächste Windung ihres Körpers um den Hals des Pelzträgers. Die Bisamratte warf sich auf den Rücken, fiepte und strampelte zuerst, und fauchte und miaute dann, denn sie hatte sich in eine Hauskatze verwandelt. Die Schlange kannte keine Gnade – sie zog den Muskel ihres Körpers so lange um den pelzigen Hals zusammen, bis die Katze zuerst das Fauchen und dann auch das Strampeln einstellte. Lupo kicherte. Er mochte Schlangen, und er hasste Katzen.
Die Kreuzotter entließ die Katze – einen fetten, getigerten Kater – aus dem Würgegriff, streckte sich, riss den Rachen auf und begann das Raubtier in sich hineinzuschlingen.
Kreuzottern würgten ihre Opfer zwar nicht, aber das war Lupo gleichgültig. Er lachte meckernd. Lupo liebte Schlangen, die ihre Opfer erwürgten.
Von jetzt auf nun verstummte in der Küche die brüllende Musik. Geschirr klapperte, das Licht erlosch, eine Kerze flammte auf, sanfte Orgelmusik ertönte.
Auf leisen Sohlen verließ Lupo den Laden und ging nach hinten in die Küche. Es fiel ihm schwer, sein Gelächter zu unterdrücken, denn die Vorstellung von der Kreuzotter, die eine Hauskatze verschlang, klebte ihm noch in den Hirnwindungen. Leise kichernd setzte er sich an die freie Schmalseite des Tisches.
Gegenüber saß Knox und aß. Eine fleischige Masse dampfte auf seinem Teller. Die Kerze auf dem Tisch warf seinen Schatten an die Wand. Der Schatten sah aus wie ein Gorilla, der sich eine Jimmy Hendrix Perücke übergestülpt hatte, denn Knox war groß und sehr breit und hatte lange, hoffnungslos verfilzte Dreadlocks; wobei Knox seine Frisur niemals so nennen würde, denn er verabscheute Anglizismen. »Rastafarilocken« nannte er seine Haarpracht, oder einfach nur »Rastas«. Lupo kicherte.
Knox’ Gabel verharrte auf halbem Weg vom Teller zum Mund. Mit einem strengen Blick brachte er Lupo zur Ruhe.
Der hagere Kahlkopf senkte den Kopf und kämpfte gegen den inneren Lachzwang. Wenn Knox sein rituelles Kraftmahl zu sich nahm, durfte man nicht lachen; nicht einmal flüstern. Wenn Knox löffelte, musste konzentrierte Ruhe herrschen. Und ausschließlich religiöse Musik tönte dann aus den Boxen. Indianisches Getrommel, Johann Sebastian Bach oder Ravi Shankars Tempelsitar – völlig egal, Hauptsache göttlich irgendwie.
Endlich bekam Lupo seinen Lachdrang in den Griff. Er nahm noch einen Zug, legte die Pfeife weg, und schlug brav die Beine übereinander. Er lauschte den Fugen von Bach und versuchte nicht an den fetten Kater im Leib der Schlange draußen auf der Ladentheke zu denken.
Lupo war nur knapp über einssechzig groß und hatte einen geradezu zierlichen Körper. Seinen kahlen Schädel hatte er mit Goldfarbe grundiert. Seine Ohrmuscheln, seine Unterlippe und seine Nasenscheidewand waren mit allerhand Ringen prächtig geschmückt. Meist trug er wie jetzt einen schwarzen Leinenanzug mit einem ärmellosen, ziemlich fleckigen Unterhemd darunter. Lupo lebte von schwarzen Putzjobs, von Haushaltsauflösungen und von Kleindealerei. Mit bürgerlichem Namen hieß er Patrick Schmitt.
Knox schob den leeren Teller von sich, legte die Gabel weg und lehnte sich zurück. Eine Zeitlang verharrte er schweigend und mit geschlossenen Augen. Bis er sich ruckartig vorbeugte und aufstand. Er schaltete das
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