VT07 - Niemandes Welt
Schädeldecke unter dem zurückgewichenen Haaransatz. Dahinter befand sich, was er suchte.
Nahrung.
Energie.
Kinga brüllte vor Verlangen…
… und vor Schmerz!
Ungläubig starrte er auf seine rechte Hand, die sich in eine aschgraue Klaue verwandelt hatte. Etwas Metallisches ragte aus dem Handrücken hervor und verursachte Kinga ein brennendes Gefühl.
Dokk!
Kingas Hand zuckte zurück. Er tobte. Irgendwo in seinem Hinterkopf schuf sich der Gedanke Raum, dass der Mann im weißen Kittel nicht so wehrlos war, wie er gedacht hatte. Er hatte ihm das spitze, metallische Ding durch die Hand gebohrt.
Kinga taumelte und klammerte sich mit der unverletzten Hand am Tisch fest. Der Mann, der sich Dokk nannte, nutzte die Zeit, um sich aufzuraffen und in den hinteren Teil des Raumes zu flüchten. Kinga wollte ihm nach – aber zuerst wollte er die Schmerzen loswerden. Er schlug mit der Hand gegen die Wand. Der gläserne Kubus brach ab, der Schmerz wurde noch schlimmer.
Erneut fasste er den Mann im weißen Kittel ins Auge. Seine Nahrung wollte flüchten!
Kinga taumelte ihm hinterher. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Irgendetwas stimmte mit seinem Gleichgewicht nicht. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht.
Dokk erreichte eine Tür, die in die Hinterwand des Labors eingelassen war. Ein rundes Fenster aus dickem Glas befand sich darin. Er riss sie auf, hastete hindurch und warf sie hinter sich zu. Ein Zischen erklang. Eine Sekunde später hatte auch Kinga die Tür erreicht und hämmerte mit der linken Faust dagegen.
Dokks Gesicht erschien in dem runden Fenster. Es wirkte auf einmal nicht mehr ängstlich. Erschöpft und verärgert, ja – aber nicht ängstlich.
Kinga heulte vor Enttäuschung auf. Seine Nahrung hatte sich im letzten Augenblick in Sicherheit gebracht! Er drehte sich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Eine zweite Tür! Sie stand offen. Er erinnerte sich dunkel, dass die Gruh das Labor durch diese Tür verlassen hatten.
Kinga setzte sich in Bewegung.
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»Sie hat was getan?«
Pierre de Fouché packte den Kanzler am Kragen und zog ihn quer über den breiten Tisch aus Leichtholz, auf dem er und Prinzessin Marie noch vor zwei Stunden die Rettungspläne für die Dörfer Ribe und Muhnzipal ausgearbeitet hatten.
Der Kanzler wurde bleich. »Nun ja, äh. Sie bestand darauf, an meiner Stelle zu fliegen.«
De Fouché schleuderte Goodefroot zurück und stieß einen hässlichen Fluch aus. »Das sieht diesem Weibsstück ähnlich. Diese Hexe glaubt wohl, das blaue Blut in ihren Adern würde jede noch so große Dummheit verzeihen. Aber das werde ich ihr heimzahlen!«
»Die Prinzessin beherrscht nicht nur die Kunst des Fechtens. Sie ist darüber hinaus eine gute Jägerin und Späherin«, erklärte Goodefroot zaghaft.
De Fouché fasste den Kanzler scharf ins Auge. »Hat er etwa vergessen, dass ich der Sonderbeauftragte für Kriegskunst bin? Obliegt es nicht mir, die Entscheidung zu treffen, wer als Kundschafter ausgeschickt wird und wer nicht?«
»Aber der Wille der Prinzessin steht über allem, Monsieur.«
»Der Wille der Prinzessin steht über allem«, äffte de Fouché nach. »Hüte er seine Zunge, Goodefroot! Es wird eine Zeit kommen, da das Wort der Blaustrümpfe in dieser Stadt nicht mehr viel gilt – und dann wird er seine Parteinahme für dieses uneinsichtige Frauenzimmer vielleicht noch bereuen.«
Der Kanzler schnappte nach Luft. »Diese Bemerkung ist ein Affront gegen die Prinzessin! Sobald Ihre Excellenz zurückgekehrt ist, werde ich…«
»Er wird überhaupt nichts tun, Kanzler! Es sei denn, er möchte seinen Hintern lieber an einem Lagerfeuer in der Großen Grube wärmen, wo die Gruh um ihn herumstreichen. – So, und jetzt lasse er die Gardisten einberufen. Ich werde sie über die Strategie unterrichten, mit der wir den Grauhäutigen gegenübertreten werden.«
»Aber die Prinzessin hat gesagt…«
De Fouché bleckte die Zähne. »Im Augenblick bin ich der ranghöchste Beamte in Orleans – und im Gegensatz zu ihm, Goodefroot, bin ich ein Mann, der die Gunst eines Augenblicks zu nutzen weiß…!«
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Marie genoss den Zug der feuchtkalten Nachtluft auf ihrem Gesicht. Der Flügelschlag des Witveers versetzte die Passagierkabine in eine rhythmische Bewegung, die sie schläfrig gemacht hätte – wenn sie nicht hellwach gewesen wäre aufgrund der Aufgaben, die auf sie warteten.
Antoinettes Bericht war natürlich sehr unpräzise ausgefallen. Marie wusste
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