Vulkanpark
Jungen. War er es selbst,
der sich eingenässt hatte? Der nackt und hilflos auf dem Boden lag und mit
schreckgeweiteten Augen den großen Mann über sich anstarrte, der ein Jagdmesser
mit einem Horngriff in der Hand hielt?
Er war
irritiert, diese Vision gefiel ihm überhaupt nicht. Erneut versuchte er, seine
Gedanken in eine andere, angenehmere Richtung zu bewegen. Aber das klappte
nicht mehr. Und auf einmal pochte in seinem Hinterkopf überlaut die Frage: Wer
war es eigentlich, den du töten wolltest?
21
Dorothee schaltete den
Fernseher ein. »Da ist wieder was über den vermissten Jungen«, rief sie.
Gebannt sah sie auf den Bildschirm. »Wie lang ist der jetzt schon verschwunden?
Komisch, dass die immer noch keine heiße Spur haben. Ich glaube ja nicht, dass
der noch lebt.«
Michael
brummte etwas Unverständliches. Er saß am Computer, der auf dem Schreibtisch in
der Ecke stand. Ab und zu griff er zu der Flasche Bier neben sich, setzte sie
an die Lippen und trank einen Schluck.
»Ich
finde das wirklich schlimm«, bemerkte sie. »Stell dir mal vor, eins von unseren
Kindern wäre plötzlich verschwunden, und sie würden es tot auffinden. Ich würde
mir ein Leben lang Vorwürfe machen, dass ich nicht gut genug aufgepasst habe.«
Nun
drehte sich Michael um und sah ebenfalls auf den Fernseher. »Denk doch nicht an
so was«, sagte er, stand auf und setzte sich neben sie auf das Sofa. Vorsichtig
strich er ihr über den Arm. Fast unbewusst machte sie eine abwehrende Bewegung
und konzentrierte sich auf das, was der Sprecher sagte:
»Inzwischen
wurde Timos Handy in der Nähe des Bolzplatzes, wo er zuletzt gesehen wurde,
gefunden. Auch das leicht beschädigte Fahrrad des Jungen ist aufgetaucht, und
zwar in einer Kleingartenkolonie. Die Pächter hatten festgestellt, dass in ihrer
Laube eingebrochen wurde. Dabei haben sie das Fahrrad, ein blaues Mountainbike,
entdeckt. Ob sich der vermisste Junge in der Gartenlaube aufgehalten hat, kann
zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachgewiesen werden. Von ihm fehlt immer noch jede
Spur.«
Eine
Frau in mittleren Jahren mit kurzem hellbraunem Haar, an dem der Wind zerrte,
erschien auf dem Bildschirm. Ein Schriftzug wies sie als
Kriminalhauptkommissarin Franca Mazzari aus.
»Wir
danken der Bevölkerung sehr für die außerordentliche Hilfsbereitschaft, die der
Polizei entgegengebracht wird. Wir versichern Ihnen, dass wir jedem Hinweis
nachgehen, auf Wunsch natürlich auch vertraulich. In diesem Zusammenhang
beschäftigen uns folgende Fragen: Wer ist am 15. Juli später als gewöhnlich
nach Hause gekommen? Wer hat noch nachts sein Auto gesäubert? Wer ist in
auffälliger Weise Schleichwege gefahren?« Franca Mazzari lächelte freundlich in
die Kamera: »Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir diesen Fall mit Ihrer Hilfe
bald aufklären werden«, sagte sie mit Nachdruck.
»Du,
ich glaub, das ist die Mutter von der Gina«, rief Dorothee überrascht.
»Welche
Gina?« Ihr Mann schaute verständnislos.
»Erklär
ich dir gleich.«
Eine
Filmsequenz der verzweifelten Eltern wurde eingeblendet. »Unsere Welt ist in
Stücke gebrochen, seit Timo fort ist«, sagte die Mutter. Der Vater nickte mit
zusammengepressten Lippen. Beide Eltern hatten Tränen in den Augen. »Bitte
Timo, wenn du dies hörst, komm zu uns zurück. Wir vermissen dich so.«
Dorothee
musste schlucken, so sehr bewegten sie diese Bilder. »Das ist wirklich das
Schlimmste, was ich mir vorstellen kann«, sagte sie. Sie hätte sich einen
Kommentar von ihrem Mann gewünscht, doch der starrte nur bewegungslos auf den
Bildschirm. Seine neue Frisur, wenn man das überhaupt so nennen konnte, gefiel
ihr gar nicht. Er hatte sich den Kopf regelrecht kahl scheren lassen. Und als
sie ihn darauf ansprach, hatte er nur gemeint: »Sommerfrisur. Pflegeleicht.«
Manchmal
wirkte er so in sich gekehrt, dass sie nicht wusste, was in ihm vorging.
Andererseits hatte sie ihn auch so kennengelernt. Er war nie ein großer Redner
gewesen und vieles machte er einfach mit sich selbst ab ohne sie einzubeziehen.
»Ich
will dich nicht mit meinen Problemen auch noch belasten«, hatte er mal gesagt,
als sie ihn auf seine Schweigsamkeit ansprach. Das hatte sie nicht vergessen.
Aber worin genau seine Probleme bestanden, das hatte sie bis jetzt nicht
herausgefunden.
»Was
meintest du denn für eine Gina?«, wollte er jetzt wissen.
»Na,
unsere Babysitterin. Das dunkelhäutige Mädchen, das schon ein paar Mal da war.
Doktor Johnson ist ihr
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