Vyleta, Dan
an, sah sie von ganz nahe an. Das Mondlicht fing sich im Flaum ihres
Kinns. Tausend seidige Härchen klammerten sich an ihre Wangen wie Efeu. Der Mund
war eine feste Linie, die Stirn gefurcht. Pavel hielt es für Wut, und er war
überrascht, als sie die Hand hob und ihm über die Wange strich.
»Ich
weiß«, murmelte er. »Ich sollte mich rasieren.«
Die Stirn
wurde glatt. »Es fällt mir schon fast nicht mehr auf.« Und leise: »Du kommst
doch zurück?«
Er
lächelte sie schwach an. »Was bleibt mir übrig?«
»Oh,
Pavel. Du weißt wirklich, wie man eine Frau aufmuntert.«
Sie
trennten sich ohne einen Kuss. Als er ausgestiegen war, bot ihm Karpow noch
eine Zigarette an und sagte, Pavel solle ihm zeigen, wo sich Haldemann
verstecke.
»Welches ist es?«
»Das da
drüben.« Pavel deutete auf ein braunes Ziegelhaus. Auf dem Mikrofilm war ein
Foto gewesen, mit einer Aufnahme des Eingangs. Er inhalierte tief, hielt den
Rauch in der Lunge und blies ihn wieder hinaus. Es gab ihm die Illusion von
Geduld, die er aber selbst gleich zerstörte.
»Was tun
wir jetzt?«
Der
General zögerte. Sein Blick wanderte zu Lew, dann zum Fahrer des zweiten
Wagens. Seine übrigen Soldaten hatte er an eine Wagenladung Kinder verloren.
Seine Aufmerksamkeit wandte sich erneut Pavel zu. Er studierte ihn mit
besonderer Intensität.
»Ich
sollte Verstärkung rufen. Ich könnte noch drei, vier Männer brauchen, um die
Ausgänge zu bewachen, für den Fall, dass er zu fliehen versucht.«
Pavel
nickte. »Das könnte aber eine Weile dauern. Bis Sie ein funktionierendes
Telefon gefunden haben und so weiter. Und dann kann er sich immer noch aus dem
Fenster stürzen. Wenn er begreift, dass Sie Russen sind, meine ich.«
Rauchend standen
sie da und betrachteten das Haus. Pavel sah, wie Karpow die Faust ballte und
wieder lockerte, während er zu einem Entschluss zu kommen versuchte. Seine
Finger in den dünnen Lederhandschuhen mussten eiskalt sein. Minuten vergingen,
bis Karpow etwas sagte.
»Spielen
Sie Schach, Mr Richter?«
Pavel
schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung von Schach.«
»Wirklich
nicht? Da hätte ich Sie anders eingeschätzt.«
»Tut mir
leid, Sie enttäuschen zu müssen.«
Pavel
hielt seinem Blick stand und blies weißen Rauch in die Luft. Seine Zähne
schmerzten in der Kälte. »Warum gehen wir nicht hinein und bringen es zu Ende?
Sie und ich, General. Wir holen uns Haldemann. Überzeugen ihn, ruhig
mitzukommen. Dann können wir alle nach Hause und uns bei einem Glas heißen Tee
aufwärmen.«
Karpow
schob die Lippen vor. Er nahm sich Zeit mit seiner Entscheidung. »Lew geht mit
Ihnen«, sagte er endlich. »Er ist jünger als ich. Stärker, und er schießt auch
besser. Sie verstehen doch, was ich meine?«
»Absolut.«
»Holen Sie
den Mann da heraus. Sagen Sie ihm, es ist zu seinem Besten. Sie wissen doch mit
Worten umzugehen, Mr Richter.«
Wie auf
Stichwort sahen sie beide zurück zu Sonja, die mit dem Jungen auf der Rückbank
der Limousine kauerte. Karpows Stimme nahm einen unangenehmen Ton an.
»Sie ist
sehr hübsch, wissen Sie. Eine deutsche Gruschenka. Nur nicht so drall. Der
Fuchs steht ihr.«
»Sie
müssen mir nicht drohen.«
»Wer droht
Ihnen?«
»Lassen
Sie sie hinterher gehen?«
»Sie ist
für die Sowjetunion ohne Wert. Tun Sie nichts Dummes, Mr Richter, und alles
kommt so wie vereinbart.«
Pavel warf
seine Zigarette in den Schnee und machte eine Geste zu Lew hin. Zusammen gingen
sie über die Straße auf das braune Ziegelhaus zu.
Und so gingen sie hinein. Weckten
den im Parterre wohnenden Hausmeister mit einem Klopfen ans Fenster, baten ihn,
ihnen die Haustür zu öffnen, und verschwanden nach drinnen. Karpow schickte den
dritten Russen hinterher, damit er unten an der Treppe Wache hielt, und blieb
selbst vor der Tür stehen, immer mit einem Blick auf uns, die Geiseln. Wir
befanden uns in einer Arbeitergegend, zwei Straßen nördlich vom Tiergarten. An
der Ecke gab es einen Pferdemetzger, daneben einen verlassenen Bierkeller mit
kaputten Scheiben. Niemand sagte ein Wort. Sonja saß mit versteinertem Gesicht
da, die Hände in die weiten Ärmel zurückgezogen, die Schultern gestrafft, die
Füße fest auf dem Boden. Schnell und flach atmete sie durch ihren halb offenen
Mund. Zu ihrer Linken Anders. Er sah immer wieder finster zu mir herüber, hielt
mich zu Unrecht für den Mörder des kleinen Salomon und legte schließlich den
Kopf zur Seite, um einem inneren Leck zu lauschen.
Weitere Kostenlose Bücher