Wach auf, wenn du dich traust
sage. Das ist das einzig Gute daran: Wenn ich sage, hey, ich bin das Arschloch, werden alle nicken und sagen: Ja klar, der. Wussten wir ja schon immer.
Vielleicht buchten sie mich dann ja ein. Dann hätte ich vielleicht Ruhe.
Finn spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er wollte das nicht, wollte nicht, dass jemand ihn so sah. Er hatte seit dem Tag, als seine Mutter gestorben war, nicht mehr geheult. Er würde auch jetzt nicht heulen. Die Flüssigkeit, die brennend aus seinen Augen lief, musste etwas anderes sein.
»Ich verstehe es nicht«, schluchzte er, während er sich in Miriams Kittel festkrallte, »warum wacht sie nicht auf? Warum kommt sie nicht endlich zurück?«
Er schämte sich, weil er wusste, dass ihm der Rotz aus der Nase lief und er ihn nicht wegwischen konnte. Trotzdem sah er Miriam an.
Sie blickte zurück und schien keine Angst vor dem zu haben, was sie sah. Sie fand ihn nicht albern, abstoßend, nervig oder lächerlich. Und sie verlangte nichts von ihm. Verlangte nicht, dass er etwas für sie tat. Nicht wie sein Vater, der ihn mit geröteten Augen ansah und immer Hilfe zu rufen schien. Nicht wie die Frauen, die gekommen und gegangen waren und, so unterschiedlich sie waren, alle eines gemeinsam hatten: Sie wollten endlich mal aufräumen in dem Männerhaushalt. Wollten Finn mal auf Vordermann bringen, damit sie angeben konnten, wie toll sie ihn aufgepäppelt hatten. Damit sie vor den anderen Weibern im Dorf sagen konnten: Das war mal nötig, dass sich einer um den kümmert.
Miriam reichte ihm ein Taschentuch, lächelte nicht spöttisch oder fürsorglich oder was Erwachsene sonst so taten.
Dann ging sie auf Jennys Bett zu und kontrollierte die Schläuche und Maschinen, verstellte etwas an der Flasche, aus der eine Flüssigkeit in Jennys Adern tropfte, sodass es etwas schneller lief.
»Du gehst jetzt in die Cafeteria und frühstückst erst mal«, sagte Miriam. Finn wollte widersprechen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Der Nächste wird gleich da sein. Und dann kommst du wieder her. Ich bin mir sicher, dass du dann weißt, was du tun wirst.«
»Und wenn ich einfach abhaue?«
Sie lächelte ihn an. »Nein, Finn«, sagte sie, »das wirst du nicht tun.«
Er nickte.
Noch auf dem Weg nach unten wusste er, dass er nicht in die Cafeteria gehen würde. Er steuerte geradewegs auf den Ausgang zu.
Jenny brauchte einen Grund, wieder zurückzukommen. Etwas musste anders sein. Und er würde versuchen, dafür zu sorgen.
Finn klopfte auf seine Hosentasche, um sich zu vergewissern, dass sich das Handy immer noch darin befand. Dabei spürte er es die ganze Zeit gegen seine Leiste drücken.
Er verließ das Krankenhaus und steuerte die Innenstadt an. Je näher er der Straße kam, in der sich die Polizei befand, desto schneller wurde er. Er wollte nicht wieder zögern. Nicht wie vor dem Krankenhaus, wo er am Ende beinahe nicht hineingegangen wäre.
Er zwang sich, an nichts zu denken, nur ans Gehen, nur einen Schritt vor den anderen machen, immer schneller. Er würde Jenny nicht noch einmal alleine lassen.
Zum Schluss rannte er beinahe.
Jenny
Der Mensch ist des Menschen Wolf, sagt mein Vater oft. Es ist einer seiner Lieblingssprüche. Von irgendeinem Philosophen, den Namen weiß ich nicht mehr.
Aber ich weiß jetzt, dass das nicht stimmt.
Ich habe die Angst in ihren Augen gesehen. Und das Leuchten, das über ihre Gesichter ging, als es vorbei war. Ganz kurz vielleicht, mag sein. Aber es war da, so deutlich, wie ich die Wolken sehen kann, die an meinem Fenster vorbeigleiten.
Lissy ist immer die Erste, die hier ist, die Frühaufsteherin. Manchmal, wenn ich aufwache, sitzt sie schon da und lächelt mich an und macht Späße über meinen Verband und das blaue Auge und all die Sachen. Ich glaube, das ist ihre Art, ihre Erleichterung zu zeigen, dass ich wieder da bin. Ich darf aber noch nicht so doll lachen, das tut immer noch weh.
Ich glaube, sie hat sich mit Paps gestritten. Sie versuchen natürlich, sich nichts anmerken zu lassen. Aber Lissy war völlig versteinert, als ich ihr von der SMS erzählt habe. Das wusste sie nicht, dass ich Joachim was geschrieben hatte. Da ist ihr kein Spaß mehr eingefallen und weniger als eine Stunde später war Paps hier und hat sich entschuldigt. Dass er mich allein gelassen hat damit. Er war völlig am Boden, ich glaube, sie hat ihm ganz schön die Hölle heißgemacht. Wenn Lissy einmal loslegt, gibt es kein Halten mehr.
Morgen komme ich auf die
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