Wach (German Edition)
durch kaum belebte Straßen, es ist, als gälte die Verkehrsberuhigung hier auch für Fußgänger. Stumme Trinker sitzen auf einer Bank, nur aus Bäumen und Büschen dringt unangemessen lautes Spatzentschilpen. August spürt, wie im Gehen seine Starre sich löst, die verkrampften Muskeln und verkeilten Gelenke sich lockern. Dabei verwirrt ihn die werktägliche Stadt, er kommt sich ausgesetzt vor in freie Natur, in einen Wildwuchs aus fehlender und fehlgeschlagener Planung. Er hört etwas wie das Pochen eines Spechts, biegt um die Ecke: Pflaster wird ausgebessert, ein Arbeiter kniet auf Polstern und klopft mit einem Gummihammer Steine in den Boden. Dass das heute noch so gemacht wird, denkt August, und dass es überhaupt für wert erachtet wird, einen so abgelegenen Gehweg auszubessern; da hat er das Gefühl, in unerschütterbarer Ordnung zu leben, und er empfindet tiefes Vertrauen zur Stadtverwaltung.
Zwischen ruhigen Straßen stößt er auf eine große Markthalle, eine backsteingotische Kathedrale. Vor ihrem Portal stehen drei alte Frauen mit halbleeren Einkaufsnetzen; sie schlagen die Zeit tot, denkt August und stellt sich vor, wie die drei mit den Netzen nach der Zeit dreschen. «Sagt der Arzt, ich bin kerngesund», sagt eine von den Frauen, «no-ho», machen die zwei anderen, und eine fragt: «Aber die Blutwerte, wie sind die Blutwerte?» August geht in die Markthalle hinein. Nicht Farben, Gerüche, Stimmengewirr liegen in der Luft, sondern kratzender Tabakrauch, die Halle ist halb verwaist, zwischen Obst & Gemüse, Wildtheke und Frischen Fisch haben sich Trödelstände und Trinkbuden geschoben, in einer Ecke verschanzt sich ein Discounter; und doch, wenn August an die Markthalle in seiner Straße denkt, das aufgefrischte Gemäuer mit dem Qualitätssupermarkt, ist ihm die heruntergekommene Halle hier lieber. Er kauft sich am Obststand einen Pfirsich. Der Verkäufer spricht mit aufwärtslaufendem Verkäufersingsang: «Einen Pfirsich, bitte schön .» August reicht ihm einen Zwanzigeuroschein, der Verkäufer singsangt: «Wohl dem, der hat .»
Vor der Markthalle fährt ein Radfahrer langsam an August vorbei, dabei macht er einen unnötig weiten Bogen, als wolle er ausdrücklich seine Rücksichtnahme zeigen. An der Straßenecke steht der Lastwagen einer Brauerei, ein dürrer Mann lädt Kästen aus. August bewundert, wie er die schweren Behälter wuchtet, und fragt sich, ob ein so dürrer Mann wohl selbst Bier trinkt; er stellt sich einen Abstinenzler als Bierpacker vor und sieht seinen eigenen Schatten auf dem Verdeck des Wagens: angebissenen Pfirsich in der Hand, Rücken etwas krumm, eine Bürosilhouette, immerhin schlank. Es juckt ihn, zu hampeln und Schattenspiele zu machen, aber er will den Packer nicht erschrecken. Nein, eigentlich sorgt er sich nicht um den Packer, sondern er will nicht bemerkt werden. Der Laster versperrt die Sicht auf die Fahrbahn, August muss den Hals recken, um zu sehen, ob ein Auto kommt; gar nicht bemerkt zu werden, von einem Auto zumal, als Fußgänger, wäre auch wieder übel. Als er die Straße überquert hat, kommt ihm eine ältere Frau mit Kopftuch entgegen, im langen dunklen Mantel, mit einer Hand zieht sie einen vollgepackten Einkaufstrolley hinter sich her, damit könnte man die Zeit an die Wand schmettern, die andere Hand hält sie auf Augenhöhe, als wollte sie auch ihr Gesicht verhüllen; nein, sie hält ein Handy vor die Augen, mit dem Daumen drückt sie die Tasten. August, den sie nicht bemerkt, weicht ihr aus.
Etwas weiter kommt er auf eine große Straße, wo fast nur Ausländer unterwegs sind, Türken und Araber, einige Afrikaner, auch slawische Sprachfetzen hört er. Er fühlt sich bedroht. An einer Kreuzung steht ein Schaukasten des Quartiersmanagements, darin heißt die Gegend Vorranggebiet Zukunftssicherung . Am Rinnstein, zwischen geparkten Autos, ungerührt vom Verkehr, hüpfen Spatzen und picken verschüttete Asia-Nudeln auf; da landen Nebelkrähen und verscheuchen die Spatzen. Eine Menschenschlange ragt in den Gehweg, vor der Sparkasse, warum? Heute ist der einunddreißigste Mai, August vermutet, dass am letzten Tag des Monats die Überweisungen vom Arbeitsamt kommen. Er bemerkt, dass er hungrig ist, und schaut sich im Gehen die Imbissläden und Lokale an. Vor einem riesigen, menschenleeren Restaurant steht ein wartender Inder; ob er Sinn hat für die Magie, die in der Spannung zwischen der belebten Straße und dem leeren Gastraum liegt? In einem Helal-Imbiss
Weitere Kostenlose Bücher