Wach (German Edition)
versteht; vielleicht ist es der Traum jedes Kindes, das Eis mit einem einzigen Happs aufzuessen, nur ist sein Mund dafür zu klein; das ist sein Glück (das sich mit der Zeit auswachsen wird). Eine Schwangere isst eine Bratwurst. Am Fuß eines hohen, dunkelverglasten Turms spielt ein Leierkastenmann mit grauem Mantel und Pickelhaube Nessun dorma . Der Leierkastenhauptmann signalisiert den Übergang in die eigentliche touristische Zone.
Hier stehen ein- und zweigeschossige Biedermeierhäuser in verwinkelten Gassen, Straßengewirr, Durcheinander ohne Geraden, Parallelen, rechte Winkel. Souvenirläden und Boutiquen dominieren, an den Cafétüren steht: Keine öffentliche Toilette – No Public Toilet . Solche Schilder ärgern August, man sollte die Gäste der Stadt freundlich behandeln, außerdem ist er auf öffentliche Toiletten angewiesen. Der Gehweg ist voller Stolpersteine, hier befand sich einmal ein jüdisches Viertel. Ein Mann hat eben sein Fahrrad an eine Laterne gekettet und geht zu einem Schmuckgeschäft; den Fahrradhelm hat er noch auf dem Kopf, aber den Riemen schon gelöst, sodass vor seinen Ohren zwei Bänder baumeln, wie Schläfenlocken. Als August dem Mann nachschaut, spricht ihn jemand von der Seite an: Studienfreund Knud, jetzt Unternehmer, irgendwas mit Medien. Knud trägt einen Bart und fragt August, wie es ihm gehe, und wie es Susanne in, wo doch gleich, gehe, und ob sie, Knud und August, nicht mal wieder auf ein Bier oder ins Kino wollten. August hat schon als Student oft gedacht, wozu ins Kino, wenn man zu Hause sitzen und Mahler hören kann; jetzt denkt er, er geht lieber rum. Zum Glück ist Knud in Begleitung von zwei Geschäftspartnern, zwei jungen Balten, für die er Stadtführer spielen muss. «Ich melde mich», sagt August.
Die Stadt wimmelt von Besuchern aus Amerika, Skandinavien, Polen, Italien. August ist auf einen weitläufigen Platz geraten; er hat ihn zwar angesteuert, aber auf einen so ausgedehnten Platz kann man immer nur geraten sein, und der Platz kann noch so dichtbevölkert sein, man muss ihn immer als leergefegt empfinden, als Quadratmeileneinöde, Steppe und Rumpelkammer in einem, Gerölllandschaft aus Steinplatten, Betonebenen, verstreuten Pavillons, Brunnen, Bassins, Rampen, eingezirkeltem Grün, vor der Horizontlinie einer langgestreckten Reihe von Wohnblöcken. So ins Leergefegt-Zugerümpelte geraten, denkt August, auf diesem Platz findet eine Völkerwanderung statt, die in Wahrheit eine Einsamkeitswanderung ist, eine Völkereinsamkeitswanderung. Eine Allee führt schnurgerade durchs Nichts, auf einer Bank sitzt ein Pärchen im Sonnenuntergang, Kopf an Kopf blicken sie in zwei verschiedene Richtungen. Da von fern, spiralenförmig sich heraufwindend, wie aus der Tiefe der Jahre (dabei war’s letzten Sommer), die Erinnerung
an eine Reise mit Susanne, sie haben oft Wochenendreisen gemacht, mit dem Billigflieger in die Stadt der Liebe, die Hauptstadt des Empire, die Goldene Stadt, die Ewige Stadt; Susanne stöhnte über den klapprigen Flughafenbus, während August die umständliche Fahrt stadteinwärts gefiel, über monströse Straßen, durch verkorkste Vororte und Randviertel, eine sengende Hässlichkeit mit Pinien. Selbst die schönsten Städte sind nur zu fünf Prozent schön und zu fünfundneunzig Prozent hässlich, sagte August, zu achtundneunzig Prozent, sagte Susanne. Auf dem Palatin hatte sie ein rotes Tuch um den Kopf gebunden, in der Sonne sah sie aus wie eine blonde Piratin und las lachend aus dem Reiseführer vor: Goethe hat geschrieben, es ist alles, wie ich mirs dachte , ist das nicht komisch? August verschleppte auf dem Weg zu den Sehenswürdigkeiten immerzu das Tempo, die unattraktiven und kläglichen Plätze hielten ihn fest, Wege zwischen Bauzäunen, die Brache hinter einem Souvenirkiosk; den wunderbar verwinkelten U-Bahnhof Colosseo wollte er gar nicht verlassen, und draußen vergaß er die herausgeputzte Ruine, als er die stumpfen Gesichter der käuflichen Fotomotive sah, Legionäre und Gladiatoren, er malte sich ihr Leben in den unansehnlichen Vororten der Ewigkeit aus; und auf dem Forum nahm er die Steine von Tempel, Basilika, Kurie kaum wahr, sondern hielt Ausschau nach den Lagern der streunenden Katzen. Auf dem Kapitol sagte Susanne: Als Tourist hat man immer das Gefühl, man ist nicht da gewesen, wo man hingewollt hat; man ist zum ersten Mal in Rom, trotzdem denkt man, Rom ist auch nicht mehr, was es mal war. Sie saßen vor dem Palazzo Nuovo, in
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