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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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ihrem Rücken lag wie ein Baumstamm der Zeigefinger eines Kaisers, in der Ferne, durch einen Torbogen, sahen sie eine Hochzeitsgesellschaft und sprachen darüber, wohin man gehen solle, zu den Orten mit Sternchen oder ins Abwegige. Susanne sagte, es sei ungehörig gegen eine Stadt und ihre Bewohner, wenn man als Tourist von den vorgesehenen Strecken abweiche; wenn man in der Natur sei, solle man auch auf den markierten Wegen bleiben, statt durch Feld, Wald und Wiesen zu trampeln. August sagte, in den hässlichen Vorstädten würden die Menschen sich vielleicht wundern, aber auch freuen, wenn ein Tourist sich zu ihnen verirrte. Aber warum bloß?, fragte Susanne, du nennst es ja selbst Verirren. Sie waren immer irgendwo zwischen Streiten und Lachen, tagsüber auf den Straßen und abends im Auditorium und nachts im Hotel am Campo de’ Fiori. In Erinnerung ist ihm auch ein bewegtes Bild: eine Gruppe von trinkenden Männern an der Piazza del Popolo, ein Zigeunermädchen kommt vorbei und zeigt den Touristen ihr handgeschriebenes Pappschild, an der Trinkergruppe geht sie vorbei, da ruft einer der Männer ihr nach, winkt sie zu sich und wirft ihr eine Münze in den Becher, das Mädchen bedankt sich und geht weiter. August wusste sofort, dass er das Bild, wie der Mann das vorbeigelaufene Mädchen heranwinkt, nicht vergessen würde, die Gesichter sind ihm entfallen, aber das Bild hat sich seiner Erinnerung eingegraben; und mit ihm, dem unbeteiligten Zuschauer, wird es verschwinden, denn die Trinker und das Bettlermädchen werden es längst vergessen haben. Vor allem aber bleibt ihm das Bild von Susannes Lachen und die Erinnerung, wie nah sie sich einander gefühlt haben; und die nachträgliche Überzeugung, wie fremd sie sich schon damals waren.

    Auf der kolossalen Zentrumsbrache steht ein Vierhundertmeterturm, der Finger nicht eines Kaisers, sondern eines Gottes, er wirft seinen Schatten im Abendlicht endlos weit. Der große Platz ist ein Forum ohne Spuren, eine Kraterlandschaft, die keine Übersicht gewährt, es sei denn vom Turm aus (aber wenn man dort oben steht, schaut man über den Krater hinweg). Nicht weit von hier, wo die Stadt einst aus Sumpfland entstanden ist, will die Stadtverwaltung Grundrisse und Gefüge von verschwundenen Straßen und Häusern auf den Boden zeichnen. Aber noch ist nichts erkennbar von der Stadt, die hier einmal war. Wo mögen die Gassen gewesen sein, wo die Haustüren, wo die Treppen, Küchen, Kellerluken? Nur die mittelalterliche Stadtkirche steht noch da, am anderen Ende des Platzes in einer Kuhle, als hätte die Erde sie halb verschluckt. Inmitten seiner Grübeleien entdeckt August im Beton einen kleinen Punkt, der in der letzten Sonne silbern und rötlich funkelt, als Bote unbeirrbarer Landvermessung; da öffnet er seine Augen und Ohren wieder für die lebendige Umgebung. Eine Gruppe italienischer Touristen kommt auf ihn zu, «una città tranquilla», sagt eine Frau, «una città molto tranquilla». Eine Obdachlose schlägt ihren Hund, dann umarmt sie ihn und murmelt Entschuldigungen. Ein Marienkäfer krabbelt an einem Laternenpfahl empor, faltet seine Flügel auf und fliegt davon, oder wird vom Wind fortgetragen. Auch die Schwangere aus der Einkaufsstraße sieht August hier wieder, sie geht langsam an einer Grünfläche entlang und streichelt ihren Bauch, August fragt sich, ob sie das Baby oder die Bratwurst streichelt. Da ist er schon bei der versunkenen Kirche.
    Hinter der Kuhle lärmt eine vielspurige Straße. Das obere Drittel des Kirchturms liegt noch im Sonnenschein, die Backsteine scheinen in die Nacht hineinglühen zu wollen. Am Portal warten ein Dutzend Männer und Frauen, vielleicht gibt es eine Abendführung; als August sich der Gruppe nähert, fragt ihn ein Mann mit einer Liste in der Hand: «Herr Girardi?» August nickt, aus der Gruppe brummelt es «Na endlich!», und eine Frau sagt, mit verärgertem Blick auf Augusts Tüte: «Waren Sie etwa noch shoppen?» Der Mann macht auf seiner Liste ein Häkchen, und während er das Portal aufschließt, sagt er zu August: «Ich habe Ihren Kollegen schon gesagt, dass Sie sich zuerst die Kirche ansehen können, um sich ein allgemeines Bild vom Bauzustand zu machen. Danach treffen wir uns in der Turmhalle, und ich erläutere Ihnen den Restaurierungsstand des Bildes.» August reiht sich in den Gänsemarsch der Restauratoren ein, zwischen zwei Glaswänden gelangen sie ins belebend kühle Langhaus, wo die Gruppe sich verteilt. Oben wird

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