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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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Maß; heute ist sie eine normale große Stadt (nur die Centerdichte ist ungewöhnlich hoch). Die abendliche U-Bahn ist stickig, sie hat die Hitze des Tages in sich aufgesogen. Die Fahrgäste halten den Atem flach. Wenn einer aufsteht, bleibt etwas von ihm am Sitz kleben. Manche lesen Zeitungen, andere blättern in Reiseführern. Zwei junge Italienerinnen unterhalten sich, bis ein bettelnder Mittzwanziger, der auf Krücken durch die Reihen gehumpelt ist, bei ihnen stehen bleibt und fragt: «Siete Italiane?» Sie wollen ihn zuerst abwimmeln, dann kramt eine der Frauen ihr Portemonnaie hervor und zeigt dem Mann das leere Münzenfach. «Ma ti faccio una sigaretta», sagt sie und legt losen Tabak in ein Papierchen. Der Mann wartet, auf seine Krücke gestützt, doch als der Zug in den Bahnhof einfährt, sagt er: «Considera di avermi dato una sigaretta», und humpelt zur Tür.
    Auch August steigt aus. Im Menschenstrom zur Rolltreppe bleibt er stehen, weil eine neue Szene ihn festhält: Ein junger Mann stellt eine leergetrunkene Bierflasche neben den Mülleimer, und sogleich kommt ein verwachsener Mann angeschlurft, ein Gnom mit borstigen Haaren, nimmt die Flasche, kippt die letzten Tropfen in den Mülleimer und steckt die Flasche in eine große Tüte. Das Klirren der gesammelten Flaschen begleitet sein Wegschlurfen. August bewundert die Umsicht des Trinkers und das Timing des Gnoms, den nur die Pfandflasche, nicht der Alkohol interessiert: zwei schweigende Staffelläufer, die, an der Peripherie des Großkommerzes, den Wert der kleinen Waren erhalten. Am Fahrscheinautomaten versucht eine Punkerin mit Totenkopf-Ohrring, Touristen ein abgestempeltes Ticket anzudrehen; die Touristen zögern, die Punkerin beharrt, fast wütend: «Es gilt noch eine Stunde. It’s guilty, it’s guilty!» August stellt sich vor, die Punkerin ärgert sich nicht nur über die entgehende Einnahme, sondern eine Art höherer Schmerz wühlt sie auf: über das Stocken der Warenzirkulation, sinnloses Ersterben von Wert.
    Wie überall in der Stadt, herrscht auch auf der großen Einkaufsstraße keine Hektik, sondern die typische Langsamkeit des Verkehrs, die notorische Ruhe der breiten Wege, zähes Dahinfließen der Fußgängermasse. Über der Straße liegt der Geruch von Seife, neben dem U-Bahn-Ausgang liegt ein Laden für ökologische Kosmetik. Auf dem Gehsteig stehen junge Verkäuferinnen, nur mit Schürzen und High-Heels bekleidet; eine der Nackten hält ein Schild hoch:
Bei uns gibt es keine überflüssigen Verpackungen!
    Die Passanten fuchteln mit Digitalkameras und Fotohandys. Ein Japaner gluckst, als könnte es ihn gleich zerreißen. Eine Frau sagt zu ihrem Begleiter: «Die Blonde da, hoffentlich hat die sich gut eingecremt.» Der Begleiter sagt «Aua» und kichert; eine Miniatur von Scherz, denkt August, ein fast abstrakter Witz. Dabei versucht er, den Atem wie in der U-Bahn flach zu halten, um den Seifengeruch nicht in sich hineinzulassen.
    Dieser zentralen Einkaufsstraße kann das Wachstum der Shoppingcenter nichts anhaben. Viele Geschäfte haben bis Mitternacht geöffnet, deshalb ist auch jetzt noch viel los. August guckt in die gleichartigen Schaufenster; unvorstellbar, dass es einmal Flaneure gab, die sich vor Schaufenstern und Auslagen die Augen aus dem Kopf gucken konnten. Er betritt ein Kulturkaufhaus und geht zur Klassik. Eine Japanerin steht lächelnd vor dem endlosen Mozartregal. August hört ins Lied von der Erde hinein, mit Kathleen Ferrier: Ich wandle nach der Heimat, meiner Stätte. Ich werde niemals in die Ferne schweifen. Zwei andere Ferrier-Aufnahmen vom Lied von der Erde besitzt er schon. Er liebt natürlich Kathleen Ferrier, aber fast noch mehr den dumpfen Klang der alten Aufnahme; auch wenn das Rauschen fast ausgelöscht ist, liegt über der sumpfigen Musik etwas wie laute Luft, ein Grundgeräusch der Ferne. Allerdings ist das Kulturkaufhaus zu gut ausgeleuchtet für Mahler.
    Als er, in der Hand die Tüte mit acht neuen CDs, wieder auf die Straße tritt, ist es immer noch hell, immer noch steht die Sonne über den Häusern, heute ist ja der längste Tag des Jahres, unvorstellbar, dass es je wieder dunkel werden könnte. Auf der Werbetafel einer Schuhfirma steht imagination walks . Ein grober Mann, der Anthony Quinn ähnelt, kauft sich an einem Eisstand eine Kugel Erdbeer und verschlingt sie mit einem Happs. August ist gerührt, dass ein gewalttätig wirkender Mann Eis isst wie ein Kind und das Eis ebenso wenig zu genießen

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