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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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sagt das?», fragt August. «Gochmal!», ruft Pit strahlend und rennt wieder zum Pumpenarm. «Fatma», sagt Salome. August fragt: «Wer ist Fatma?» «Fatma ist sieben», sagt Salome, «und wenn das mit dem Planeten passiert, legen wir uns zusammen ins Bett und lassen es über uns ergehen. Pit soll sich zu unserer Mutter legen, sie kann ihn festhalten, damit er nichts merkt. Und du – zu wem wirst du dich legen?» August weiß bereits, dass Salome gern über den Tod ihrer Gesprächspartner räsoniert, und antwortet: «Das muss ich mir überlegen. Vielleicht zu niemandem, vielleicht werde ich mich auf das Dach meines Hauses setzen und dort mit offenen Augen den Einschlag erwarten.» Salome geht darauf nicht ein, sondern wechselt ansatzlos das Thema und sagt, dass es zwei Wege vom Hort zum Spielplatz gebe, den Pumpenweg und den Weg ohne Pumpen. Der Weg ohne Pumpen sei ein Zickzackkurs, auf dem man alle Straßen mit Pumpen umgehe, denn an denen könne Pit nicht vorbei («er kann es nicht», wiederholt sie, mit einer Mischung aus Nachsicht und Entsetzen), sodass man auf dem Pumpenweg oft bis zum Einbruch der Nacht nicht einmal in die Nähe des Spielplatzes gelange; beim nächsten Mal werde sie August auf den Weg ohne Pumpen führen. «Schaut mal, Kinder, ein Regenbogen!», ruft August, der Salome nur halb zugehört hat, und zeigt zur Pfütze. « Du gehst wirklich ohne System», sagt Salome, «können wir jetzt endlich weiter?» Um loszukommen, nimmt August Pit auf die Schultern. Salome forciert das Tempo und erzählt eine Geschichte, denn wie Manja hat auch sie eine Verabredung mit August, bei jedem Treffen Geschichten zu tauschen; Salomes Geschichten handeln oft von ihrem Vater (den Manja nie erwähnt):
    «Übrigens war mein Vater ein Indianerforscher. Er ist durch den Regenwald gereist und hat Sprachen gelernt, die nur noch von zehn Menschen gesprochen werden und darum vom Aussterben bedroht sind, denn zehn Menschen können jederzeit an Curare sterben oder im Amazonas ertrinken oder von Piranhas oder Jaguaren zerfleischt werden. Er hat viele Auszeichnungen und Orden bekommen. Aber irgendwann ist er nicht mehr aus dem Regenwald zurückgekommen. Manche behaupten, er wollte keine Orden mehr bekommen, weil sein Schrank voll davon war, manche sagen, er wurde gefressen, manche, ein vergifteter Pfeil hat ihn getroffen. Ist aber alles Quatsch, er mochte Orden, einem Raubtier hätte er den Kopf abgehackt, und für vergiftete Pfeile hatte er Gegengifte. Nein. Er ist im Regenwald geblieben, um nach der seltensten, schwersten Indianersprache zu suchen, einer Sprache mit einer Trillion Wörtern, die nur noch von einem einzigen, hundertzwanzig Jahre alten Indianer gesprochen wurde.» «Und?», fragt August. «Was, und?» «Hat er den Alten gefunden?» «Weiß ich doch nicht. Aber wenn du mich fragst, ich glaube, er ist immer tiefer in den Regenwald hineingegangen, und je tiefer man hineingeht, desto stärker regnet es ja, in der Mitte des Waldes fallen die Flüsse senkrecht vom Himmel. Also ist er in dem ganzen Wasser allmählich geschrumpft, bis er nur noch so groß war wie Pit, und dann nur noch so groß wie Pits Fingernagel, und dann hat er sich ganz aufgelöst und ist mit dem Wasser im Moos versickert.» «Dann ist er vielleicht zu einem Regenwaldgeist geworden.» «Ja», sagt Salome, «und die Indianerstämme beten ihn an und beschwören ihn, sie rufen ihn um Hilfe.
    Und deine Geschichte?»
    «Meine Geschichte ist heute ganz kurz», sagt August, «sie handelt von Rattigan Glumphoboo, einer guten Freundin von mir. Sie ist Bildhauerin im mongolischen Hochgebirge.» «Altai oder Changai?» «Changai. Sie ist die geschickteste Künstlerin weit und breit, und zugleich die schönste, noch bei den schwierigsten, schmierigsten Arbeiten trägt sie Seidenhalstücher in den siebenundfünfzig Farben des Regenbogens (im Changaigebirge haben Regenbogen viel mehr Farben als hier). Einmal wollte sie eine riesige Holzfigur bauen. Dazu musste sie ein dickes Brett an einem Pfahl befestigen. Sie hielt das Brett an den Pfahl und setzte die Bohrmaschine mit dem dicksten Holzbohrer auf der höchsten Stufe an. Aber das Brett war aus dem harten Holz der Changai-Lärche, sodass der Bohrer nicht durchwollte. Rattigan Glumphoboo presste ihren Körper gegen das Brett, umklammerte mit der freien Hand den Pfahl von hinten und drückte die Bohrmaschine mit aller Kraft; und der Bohrer ging durch; aber hinter Brett und Pfahl ging er mitten durch ihre Hand und

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