Wach (German Edition)
Orgel gespielt, der unsichtbare Organist ist offenbar ein Anfänger, der erst abends, nach Schließung der Kirche, zu üben beginnt. Die immer wieder ansetzenden, abbrechenden, neu ansetzenden Töne füllen den Raum mit einem eigenartigen, murkelig-schönen Zauber. August setzt sich auf eine Bank und hört eine Weile zu. Staubig ist es, einige Bänke sind von einem Gerüst überdeckt, auf dem ein Kran steht, oder hockt: Mit seinen langen Stützbeinen und seinem massigen Rumpf wirkt er wie eine rote Spinne, unklar, ob sie schläft oder lauert. Darüber ist ein Leuchter in Plastikfolie gehüllt und, damit der Kran Platz hat, mit einem Seil seitwärts gehoben und an einer Säule festgezurrt. August steht wieder auf, geht rum, er wundert sich, warum die Restauratoren die Kirche abends um elf besichtigen, durch die Fenster kommt ja kein Tageslicht mehr, nur noch Laternenschimmer. Fachmännisch wendet er den Kopf, betrachtet Säulen, klopft an die Wand, kratzt mit dem Finger. Da ruft eine Stimme durch den Raum: «Heraus zum Totentanz, bitte!»
Die Restauratoren dürfen hinter die Glasabsperrung direkt ans verwinkelte Wandgemälde treten. Die Turmhalle ist nur von Kunstlicht hell, wie die Mall. Während der Führer erläutert: ein kalter Herbsttag 1860, Königlicher Oberbaurat Stüler an der Tünche gekratzt, zum Vorschein der Totentanz, mindestens hundertdreißig Jahre unter Kalk, vielleicht mehr als dreihundert, also Entsalzung, Eindämmung von Nässeeinwirkung, Oberflächenreinigung – hört August nur mit halbem Ohr hin und versenkt sich in das ausgeblichene Wandbild, oder erhebt sich, denn es befindet sich über Augenhöhe. Er geht ein paar Schritte, das Fresko ist zwanzig Meter lang und länger, und hat so viele Ecken, dass es von keinem Punkt aus überschaubar ist, man muss es abschreiten. Nur wenig ist erkennbar, die Bilder sind fahl wie Knochen, die Menschenalter, der Sonne ausgesetzt, im Sand gelegen haben; was zum Vorschein kommt, wirkt ungelenk, die Meister waren anderswo, aber gerade so wirkt das Bild anziehend, und mit den Farben ist auch die malerische Dürftigkeit verblichen, der eintönige Hintergrund wird zur lebendigen Landschaft, die hüftsteifen Figuren beginnen zu tänzeln, der schablonenhafte Tod gewinnt Kraft, und so beginnen die Menschen und die Mumien, die ihnen die Hände reichen, sich langsam im Kreis zu drehen, um die Betrachter herum, und zu murmeln,
nu mute gi liden den bitteren doet
und
legget dat tidebuck snel uth jwer hant
und in der Mitte, auf einem Eckpfeiler, unterbricht der gekreuzigte Christus den Tanz,
kamet al met my an den dodendantz
aber es klingt nicht wie Widerspruch, sondern wie Einstimmen, da spricht bloß ein Gehilfe des Todes,
gy muthen ok dantzen
und während man geht, bemerkt man, die einförmigen Figuren des Todes, ohne Abwechslung, schauen starr dem Betrachter ins Gesicht, und wie sie ihn da fixieren, werden sie zu einer einzigen, sich drehenden Gestalt: Diese eine Gestalt, nicht das Kreuz des Erlösers, ist und bleibt der Herr des Bildes.
Och gode gheselle taste my nicht an
wente ik byn ein begeven geystlick man
jammert der Mönch, und der Junker
Och liue doeth beide noch eyne stunde
die Wirtin
nym den doren ick gha vnde tappe ber
und in Augusts Erinnerung schwirrt es
it’s guilty it’s guilty
und er begibt sich bis ganz an den Rand, wo fast alles zerstört ist, wo sich bis auf letzte, verlöschende Buchstaben nicht entziffern lässt, was die verschwundene achtundzwanzigste Figur sagt, eine Mutter vielleicht, oder ein einsames Kind, schickt einen letzten verstümmelten Notruf
och w
wente thu
rupet al iw
help
Pit pumpt, Salome drängelt. Mit Kindern geht man anders, hat Manja gesagt, und als August am sonnigen Nachmittag ihre Kinder von Kita und Hort abgeholt hat, merkt er das; er würde gerne losziehen, um sich aus der Versteifung zu lösen, aber er wird gehalten und gezogen. «Auf dem Hof hört man, bald wird ein Planet die Erde treffen», sagt Salome zu August, während Pit sich wieder an den schweren Arm der Pumpe hängt und ihn durch sein Körpergewicht nach unten zwingt, bis Wasser auf den Bordstein fließt, «und ich möchte gern wissen, ob sich das verhindern lässt.» Als der Pumpenarm unten ist, läuft Pit zur Pfütze, in der das Tageslicht funkelt, in seinem Gesicht liegen Ernst und Anspannung, die sich, als er in die Pfütze springt und unter seinen Sandalen das Wasser spritzt, in ein Jauchzen des ganzen Körpers auflösen. «Wer
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