Wach (German Edition)
faucht und versucht, dem davonfegenden Großen einen Hieb zu versetzen. «Die Mama gilft», krächzt Pit. August ist ratlos: «Schilt?», fragt er. Pit sagt: «Nein, gilft .»
«Als ich vor ein paar Tagen mein Fahrrad in der Werkstatt abgegeben habe, ist mir etwas Eigenartiges passiert. Ich wollte das Fahrrad repariert haben, ehe der Sommer vorbei ist. Dabei habe ich mich vor dem Fahrradmechaniker geschämt, weil das Rad so heruntergekommen war. Für den Auftragszettel habe ich meinen Namen genannt und meine Telefonnummer und den Namen der Straße, in der ich wohne, und dann hätte ich die Hausnummer nennen müssen. Aber kannst du dir vorstellen, dass sie mir nicht eingefallen ist? Weißt du deine Hausnummer aus dem Kopf? Ich hatte eine Vermutung, aber sofort ist mir noch eine andere Zahl eingefallen, die es ebenso gut sein könnte; oder aber … auf jeden Fall einstellig, dachte ich, aber nicht 1. Es ist eigentlich kein Wunder, denn wann habe ich zuletzt auf meine Hausnummer geachtet? Wenn ich einen Brief schreibe, benutze ich eine Dokumentvorlage mit Briefkopf. Ich habe also auf gut Glück eine Zahl genannt. Später habe ich mich daran erinnert, wie ich vor ein paar Jahren in Prag war. Die Touristen strömen die Nerudagasse zur Burg hinauf, eine malerische Straße mit hübschen Bildern über den alten Haustüren, zwei Sonnen, drei Geigen, ein grüner Hummer. Diese Bilder haben den Häusern ihre Namen gegeben. Erst die Habsburger haben Prags Häuser durchnummeriert, im Geist der Aufklärung haben sie alles geordnet und klassifiziert, und vor allem konnten sie so leichter Steuern eintreiben und Soldaten rekrutieren, und die Judenhäuser haben römische Ziffern gekriegt. Da hat also das Zeitalter der Hausnummern begonnen. Und jetzt geht es zu Ende, die Hausnummern verblassen und verschwinden. Sicher entstehen neue Ordnungssysteme. Aber die sind nicht mehr numerisch, die Städte werden wieder zu Ansammlungen von Bildern.» «Deine Geschichte gerät wieder zu einer Theorie. Warst du mit Susanne in Prag? Aber das geht mich nichts an. Weißt du, dass es in Tokio bis heute keine Hausnummern gibt? Und auch, hat mir, als ich in Tokio war, ein Tokioter erzählt, in Seoul nicht und in Addis Abeba nicht (in Addis Abeba werden sie allerdings gerade eingeführt, damit die Wasser- und Strom- und Gaswerke ihre Rechnungen per Post verschicken können). Aber unsere Stadt, August! Unser skurriles, abweichendes Zählsystem: Ich wohne im Haus Nummer 54, und gegenüber ist die Nummer 3, auf einer Straßenseite laufen die Zahlen vor, auf der anderen zurück; unsinnig und verwirrend ist das, sehr schön. Und im Fahrradladen? Hast du deine Hausnummer richtig geraten?» «Ja. Macht das die Geschichte witzlos? Übrigens war ich wirklich mit Susanne in Prag. Sie hat gefragt: Warum mussten erst die Habsburger kommen, um den Häusern Nummern zu geben? Die Idee liegt doch nahe.» «Sie ist eben klug. Ich würde sie gern einmal kennenlernen. Kommt sie mal wieder in die Stadt?»
«Und deine Geschichte», sagt August.
«Ich habe eine, die ein bisschen zu deiner passt. Hör zu! Vor ein paar Jahren, als ich und Salome noch in der alten Wohnung wohnten, Pit war noch nicht geboren, hat mein Großvater uns besucht. Wir haben ihn vom Busbahnhof abgeholt, und schon auf dem Weg in die Wohnung hat er immerzu den Kopf geschüttelt und sich umgesehen. Und als wir an der Haustür standen, sagte er: Ich bin schon einmal hier gewesen. Ich erkenne jede Ecke, jedes Haus, jede Tür. Ich war jünger als du, fast noch ein Kind. Aber ich bin nicht so ungehindert herumgelaufen, wie wir es jetzt tun. Ich habe mich von Straßenecke zu Straßenecke bewegt. Von Haus zu Haus. Meter für Meter. Und immer wieder zurück, zwei Meter vor, anderthalb zurück. – Und dann hat er zwei Wochen nur die Wohnhäuser in meinem Viertel besichtigt. Er ist den ganzen Tag durch die Straßen gegangen und hat die Fassaden angeschaut und sich gefragt, welches Loch stammt von einem Schuss und welches hat bloß eine Assel reingefressen.» «Im Grunde», sagt August, «gefällt mir die Idee, in einer Stadt nur Fassaden von Wohnhäusern zu besichtigen.» «Das kann ich mir denken», lacht Manja, «denn das passt besser zu dir, als dich im Touristengelee auf den Hradschin zu wälzen. Du bist eben ein Irrläufer. Weißt du, was ich finde? Eigentlich würdest du ins neunzehnte Jahrhundert gehören, vielleicht in noch ältere Zeiten, aber Pech, du hast dich ins einundzwanzigste Jahrhundert
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