Wach (German Edition)
verlaufen, und hier bist du falsch. Heutzutage ist man nicht melancholisch, sondern an Depression erkrankt. Ich habe aber ein Herz für irrlichternde Tippelmönche.»
Sie gehen ins Wohnzimmer, wo blaues Licht sie empfängt, es fließt über Wände und Decke und einen wackligen Schrank mit Kunstbänden, zerlesenen russischen Taschenbüchern und vielen CDs. Yuu sui en, denkt August, während er auf die beiden in sich versunkenen Kinder schaut. Salome lackiert sich im Schein einer Leselampe die Fingernägel, Pit schichtet einen Turm aus Holzbauklötzen auf und singt dabei leise: «Ich gaue mir ein Gasperhaus.» Auf Zehenspitzen stehend, setzt er vorsichtig den letzten Klotz obenauf, dann beginnt er heftig zu pusten, sein Gesicht läuft rot an, Spucke sprüht aufs Holz, und der Turm kippt mit Karacho um. «Fluch!», brüllt Salome, der das Pinselchen verrutscht ist. Pit johlt und beginnt, im Kreis durchs Zimmer zu rennen, Salome hinterher, und Pit quiekt vor Freude. «Vorsicht!», ruft Salome, und Pit schlägt einen hektischen Haken um den Geigenkasten, der am Regal lehnt (auf dem Geigenkasten liegt ja Staub, eine ganze Schicht Staub), so geht es jetzt im Kreis, und immer wenn Pit ans Regal kommt, ruft Salome: «Vorsicht!», und Pit weicht aus und rennt weiter.
August und Manja stellen sich ans Fenster und schauen hinaus. Es ist noch nicht so spät, wie es dunkel ist, es hat sich bloß zugezogen; über den Dächern sausen Mauersegler und stoßen ihre spitzen Schreie aus. Auf der anderen Straßenseite, vor dem Haus Nummer 3, wartet ein Krankenwagen, mit stumm kreisendem Blaulicht. Die Haustür steht offen, daneben drehen sich zwei Plastikwindräder auf dem Kundenstopper eines Reisebüros. Junge Männer lungern um den Krankenwagen und warten auf Geschehen, ihre Köpfe wirken fast violett: schaulustiges Lebensverdämmern, denkt August, werden sie, wenn aus dem Haus jemand herausgebracht wird, sich selbst auf der Trage entdecken? Wird ihnen nicht schwindlig im Blaulicht? Er erinnert sich an die Glotzer im Park. In der Zeitung hat später gestanden, dass es sich bei der ausgegrabenen Mumie um die Leiche einer jungen Frau handele, die vor mehreren Jahren erwürgt worden sei, eine schon lange vermisste vierfache Mutter, von der man die ganze Zeit dachte, sie sei davongelaufen; ihr Mann habe sie trotz der Entstellung gleich erkannt, der Gentest habe ihn bestätigt. «Ich gucke gern aus dem Fenster», unterbricht Manja Augusts Gedanken, «und neulich habe ich hier etwas Schönes gesehen: Ein Junge mit einem großen Schulranzen hat die Windräder vor dem Reisebüro betrachtet. Immer wieder hat er zwischen den Thailand- und Ägyptenplakaten hindurch ins Büro geschielt. Dann ist er mutlos weggegangen. Aber nach ein paar Schritten ist er umgedreht und zurückgekommen. Wieder hat er die Windräder angeguckt, wieder ins Reisebüro geschaut, wieder ist er weggegangen, und wieder zurückgekommen. Und dann hat er die beiden Windräder aus dem Aufsteller herausgezogen und mitgenommen. Er hat die Arme zu den Seiten gestreckt und die Räder in den Wind gehalten. Dabei ist er ganz normal gegangen, nicht gerannt, nur ein paarmal umgedreht hat er sich und geguckt, ob jemand ihm nachkäme; aber niemand kam. Was für ein schönes Bild das war, der Junge, der im Gehen die Räder in den Wind hält.» «Jetzt haben sie neue Windräder aufgesteckt», sagt August, und Manja antwortet: «Ich könnte mir denken, dass sie den Jungen vor ihrer Tür längst bemerkt hatten. Aber sie haben ihn die Windräder einfach mitnehmen lassen.» «Vielleicht. Also!», sagt August und zieht ein Programmheft aus der Tasche. Manja schlägt ihren Taschenkalender auf und streicht die vergangene Woche durch. August kennt das schon, trotzdem macht es ihn sprachlos, wie ungerührt Manja die abgelaufenen Tage in ihrem Kalender ausstreicht; sie wirkt fröhlich dabei, zumindest nicht verzweifelt, aber August muss an eine Gefangene denken, die Striche an ihre Zellenwand macht. Manja schaut ihn erwartungsvoll an, er sagt: «Natürlich, jetzt ist ja Sommerpause … also im September … Wie wär’s mit dem Holländer? Aida, oder Wozzeck? Oder von mir aus Rosenkavalier, es gibt nichts Schöneres für Frauenstimmen als Strauss.» «Die Zeit im Grund, die ändert doch nichts an den Sachen, nicht wahr, August? und zwischen dir und mir, da fließt sie wieder, lautlos, wie eine Sanduhr … August, du Trauerkloß! Wenn man dich schon mal in die Oper bekommt! Ich möchte lieber
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