Wach (German Edition)
Kinderwagen in die Rücken der unter ihr Rollenden gekeilt, sodass er nicht hinabsausen kann; das Baby zeigt mit dem Kopf nach unten. Augusts Handy vibriert wieder. Er schaut zum Obergeschoss: Rundum hängen Menschentrauben auf der Galerie, einige Zuschauer stehen auf den Tischen des Ponte dei Sospiri, zwischen den Füßen große Eisbecher; direkt an der Umrandung, über dem Abgrund, trägt ein Mann ein Kleinkind auf den Schultern (da müsste wer vom Wachschutz hin). Unten strömen noch immer die Menschen aus den Boulevards Istiklal Caddesi, Kärntner Straße, Via Condotti, Champs-Élysées, La Rambla, Oxford Street, 5 th Avenue auf den heillos überfüllten Marktplatz. Am Technikpult, erhöht und abseits, wartet mit angespanntem Ausdruck Gundel G. Avenarius. In der Ehrenlounge steht Xerxes im Gespräch mit dem Bezirksbürgermeister, der schon am Vormittag im Boulevard Kärntner Straße die neue Dauerausstellung über das Lustschlösschen eröffnet hat: damals außerhalb der Stadt, vom Kurfürsten für seine Geliebte gebaut, im Krieg von einer Bombe beschädigt, später restlos abgetragen, nur der Name ist geblieben, und seit heute fünf Stellwände mit Jahreszahlen und Schwarz-Weiß-Fotografien von Fassaden, Nymphen und Faunen. Im Pressebereich bekommen Journalisten von Hostessen Häppchen gereicht, schnell sind die silbernen Tabletts geleert; die Mall, die in den lokalen Zeitungen Anzeigen schaltet und einmal im Monat LustschlösschenCenter Aktuell beilegt, hat auch den heutigen Event groß annonciert. So viele Menschen! Aber ist das eine Überraschung? Gerade jetzt der Wetterumschwung, hat die Praktikantin morgens gesagt, ein Glück für uns, die Leute werden vor dem Regen hier reinflüchten. August hat nur gelächelt, er weiß, dass es für die Mall kein ungünstiges Wetter gibt: Das Wetter in der Mall ist immer besser. Aber wo steckt Peggy Fleck? Sicher irgendwo hinter dem Weißen Berg. Langsam, langsam rollt die Treppe hinunter. August denkt daran, was Peggy ihm heute früh, unter vier Augen, gesagt hat: Alles Liebe zum Geburtstag, August, aber (da fing sie an zu flüstern) pass auf in nächster Zeit; deine Performance zuckt, man ist aufmerksam auf dich geworden, du hast den Schatten verlassen; Xerxes hat eh einen Narren an dir gefressen, aber jetzt ist dein Ruf bis in die Zentrale gedrungen. Und dann hat sie wieder ihre Philosophie ausgebreitet: unsichtbar bleiben, unter Radar fliegen, dann werde man auch nicht abgeschossen. Ausgerechnet du sagst das, Peggy, hat August gefragt, Xerxes’ Assistentin? Natürlich, hat sie geantwortet, am besten verborgen ist man im toten Winkel, und der ist nicht in der größten Entfernung, sondern nah, sehr nah beim Fahrer, im Herzen des Orkans herrscht Stille. Und dein Auftritt nachher, Peggy? Da hat Peggy sich auf die Zehenspitzen gestellt und August ins Ohr gewispert: Der unsichtbarste Mensch ist die Animöse, die Wichsvorlage der ganzen Welt. Das hätte August aus Peggys Mund nicht erwartet. Es ist aber nicht diese kleine Obszönität gewesen, die ihn hat stocken lassen, sondern der flüchtige Gedanke: Könnte Peggy Fleck august kreutzer sein? Das wäre ein Ding. Die Rolltreppe ebnet sich ein und verschwindet, die Menschenmenge löst sich aus ihrer Erstarrung, wieder beginnt das Drängen, der Kampf um gute Sicht. August murmelt Entschuldigungen, er gehöre zur Organisation, die meisten weichen da zur Seite, nur ein älterer Mann versucht, ihn mit einer Plastiktüte zu schlagen.
Endlich ist August zu Gundel G. Avenarius aufs Technikpodium gelangt. Gundel rotiert, ruft: «That’s incredible!», und wirft ihr Haar in den Nacken, ihr schwerer Schmuck klappert, sie wendet sich August zu: «Ich habe den Trevibrunnen in Mexico-Ciddy gebaut und ein halbes Dutzend Mal in North America, in zwei Golfstaaten und in Moskau und Riga und Bukarest, aber so einen Ansturm habe ich noch nie erlebt.» «Das heißt», sagt August, «Sie haben gute Perspektiven im alten Europa.» Gundel lacht: «Europa ist nur ein vermicular appendix, don’t take it personally. Fangen wir an?» August gibt Xerxes, der immer noch mit dem Bezirksbürgermeister spricht, ein Zeichen, Gundel nickt dem Chef der Technik zu, der greift in die Regler, und ein bassgesättigter Ton schwillt an und füllt den Raum. In der Zuschauermenge kehrt Ruhe ein, Köpfe werden gereckt. Ein roter Schein leuchtet auf, illuminiert den Weißen Berg in der Mitte des Marktplatzes, man sieht nun, im Lichtspiel, ganz deutlich, dass er
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