Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
Mein Atem geht wieder langsamer. Ich bin erwachsen, und die Dunkelheit hat inzwischen keine Macht mehr über mich. Ich trete zur Hausbar, öffne sie und nehme ein Glas und eine Flasche Scotch heraus. Nicht meinen geliebten Glenlivet, aber unter den gegebenen Umständen wird das hier genügen müssen. Mir missfällt die Art, wie meine Hand zittert, als ich das Glas drei Finger hoch vollschenke. Ich kippe den Whisky runter und lasse die schlimmen Erinnerungen von der bernsteingelben Flüssigkeit davonschwemmen.
Jetzt geht es mir wieder besser, und ich schenke mir noch einen ein, bevor ich ins Wohnzimmer zurückkehre. Ich suche nach meiner besonderen Aufnahme, die ich vor Jahren gemacht habe, als Kassetten der letzte Schrei waren. Als ich sie gefunden habe, stecke ich sie hastig und ungeschickt ins Abspielgerät. Bald erfüllt die Melodie den Raum. Ich schließe die Augen, wiege mich zur Musik, und etwas Scotch schwappt mir auf die Hand. Normalerweise fände ich es schade, die kostbaren Tropfen der bernsteingelben Flüssigkeit so zu verschwenden, aber jetzt ist es mir gleichgültig. Ich will nur noch, dass die Musik mich davonträgt.
Er spielt diesen bestimmten Abschnitt des Stücks so meisterlich, dass mir fast die Tränen in die Augen treten. In einem wortlosen Trinkspruch hebe ich mein Glas auf ihn und kippe es dann mit einem einzigen Schluck runter.
Ich schaue wieder auf meine Hände. Ich bin gut, aber er war besser. Was für eine Ausstrahlung und was für ein Stil. Er hätte einer der ganz Großen werden können, wäre sie nicht dazwischengekommen.
Ich bemühe mich, meinen Gedanken eine andere Wendung zu geben. Ich werde sein Werk nicht damit besudeln, dass ich an sie denke, während seine Musik mich umschwebt. Jetzt bin ich wütend und halte das Band an.
Sie hätte sein Talent erkennen und ihn in Ruhe lassen sollen. Aber nein, sie hat mit ihm gespielt wie mit einem glänzenden, neuen Spielzeug. Das heißt, bis der Glanz weg war. Dann hat sie ihn als gebrochenen Mann weggeworfen und ist zum nächsten weitergewandert.
Mein Blick wird vom Küchenfenster angezogen. Sie hat es verdient, wahrhaftig. Ich trommele mit dem Finger gegen die leere Scheibe. Was macht es schon, dass ich dadurch in einem Leben stecken geblieben bin, das ich niemals führen wollte? Rache hat ihren Preis, und zwar nicht nur für das Opfer, sondern auch für den Rächer.
11
Sam wälzte sich auf den Rücken und reckte die Arme hoch über den Kopf. Vorsichtig bewegte sie den rechten Knöchel von einer Seite zur anderen. Nein; nichts tat weh, nicht einmal ein Zwicken. Sie lächelte in sich hinein. Sie hatte recht behalten – Anne und Greg Clemons hatten viel Lärm um nichts gemacht. Ihr Gesicht wurde wieder ernst. Sie hatte Glück gehabt. Der Sturz hätte auch ernster sein können, und sie musste künftig vorsichtiger sein. Sie durfte sich nicht mehr so leicht von ihren Emotionen fortreißen lassen.
Sam wälzte sich auf die Seite und steckte die Hände un ters Kopfkissen. Ihr Zornesausbruch war ihr so peinlich gewesen, dass sie nur noch daran denken konnte, so schnell wie möglich von Greg wegzukommen. Sie hatte ihre Gefühle immer unter Kontrolle gehabt, aber jetzt brodelten sie ständig unmittelbar unter der Oberfläche und brachen beim kleinsten Anlass hervor. Was wohl Dr. Weissinger dazu sagen würde? Und was er wohl über die geheimnisvolle Frau sagen würde, die nachts auf ihrem Steg herumgeisterte?
Gab es wirklich eine Frau? Sie vergrub sich tiefer unter der Bettdecke. Anne hatte sie nicht gesehen, aber das bedeutete nicht unbedingt, dass die Frau nicht da gewesen war. Ob Anne ihr wohl glaubte? Wahrscheinlich nicht, denn ihr glaubte ja sowieso nie jemand. Es stimmte schon, nach dem Koma war es ihr schwergefallen, zwischen ihren Träumen und der Realität zu unterscheiden, aber sie war eigentlich der Meinung, dass es ihr inzwischen besser ging. Panik drohte in ihr aufzusteigen. Was, wenn alle guten Grund hatten, an ihr zu zweifeln? Was, wenn sie wieder den Kontakt zur Realität verlor? Nein, das würde sie nicht zulassen.
Sie schob die Bettdecke weg und setzte sich auf, aber sofort wurde ihr schwindlig, und sie fiel aufs Kopfkissen zurück. Ihr Blick heftete sich auf die Tablettenfläschchen, die auf dem Nachttisch standen. Es war ihr gestern Abend nicht gelungen, sich um die Einnahme ihrer Medikamente herumzudrücken. Anne hatte darauf bestanden, dass sie jede einzelne Tablette nahm, darunter auch die, die Jackson ihr als
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