Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
komponiert.« Sie bemerkte Sams erstaunten Blick. »Das schockiert Sie?«
»Na ja … Ich hätte nicht erwartet, dass … äh, hm …«
»Es in der tiefsten Provinz Minnesotas Kultur gibt?«
Sam nickte.
Anne machte auf dem Absatz kehrt. »Sie werden hier noch eine Menge unerwarteter Dinge finden.«
Eine Hand, die sie an der Schulter rüttelte, weckte Anne aus tiefem Schlaf. Sie wälzte sich auf der Couch herum, schlug die Augen auf und sah Sams Gesicht im bleichen Mondlicht über sich. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf.
»Was machen Sie denn hier? Sie sollten doch im Bett bleiben. Ihr Knöchel. Sie sollten ihn nicht belasten …«
»Psst.« Schwer auf die Couchlehne gestützt, brachte Sam sie zum Schweigen. »Sie ist wieder da.«
»Wer?«
»Die Frau«, antwortete Sam mit vor Angst belegter Stimme.
»Was für eine Frau denn?«
»Eine Frau im Nachthemd steht am Ende des Stegs.«
»Unmöglich«, gab Anne zurück und warf ihre leichte Decke ab. Sie schwang die Beine von der Couch und durchquerte den Raum mit raschen Schritten zur Verandatür. Sie riss die Vorhänge auf und spähte in die Dunkelheit hinaus. Nichts. Sie machte die Tür auf und trat auf die Veranda hinaus.
Auf der anderen Seite des Sees war in Fritz’ Häuschen Licht zu sehen, und der Wind trug die schwachen Klänge eines Saxophons heran. Sie ging am Rand der Veranda entlang und spähte hinunter. Wieder nichts. Also kehrte sie wieder zurück.
Sie wandte sich um, verriegelte die Verandatür und schaltete ein Licht ein. Sam saß mit bleichem Gesicht und aufgerissenen Augen auf der Couch. Anne schüttelte den Kopf. »Da draußen ist niemand.«
»Haben Sie denn das Geflüster nicht gehört?«
»Nein«, antwortete Anne langsam. »Sie aber schon?«
»Ja.« Sam senkte den Kopf und blickte nach unten. »Genau wie beim letzten Mal. Ich habe Geflüster gehört und Zigarettenrauch gerochen.« Sie hob den Kopf. »Sie rauchen doch nicht, oder?«
»Nein.« Anne beobachtete sie sorgfältig. Sam hatte wirklich Angst. »Das hier ist Ihnen schon einmal passiert?«
»Ja. In der ersten Nacht, in der ich hier allein war.« Sie holte schaudernd Atem. »Erst das Geflüster und dann der Geruch von Zigarettenrauch.« Ihr Blick schoss zu den nun wieder geschlossenen Vorhängen. »Dann habe ich eine Frau in einem lavendelblauen Nachthemd am Ende des Stegs stehen sehen.«
»Haben Sie gesehen, wie sie aussah?«
»Ihr Gesicht nicht, aber sie hatte langes, rotes Haar.«
Es mochte ein Albtraum gewesen sein, aber Sam wirkte so überzeugt, dass sie wirklich jemanden gesehen hatte. Anne suchte im Kopf nach einer Erklärung. Langes, rotes Haar, hm? Sie wusste nichts von irgendwelchen Rotschöpfen, die diesen Sommer am See wohnten. Wenn sie Fritz Thorpe das nächste Mal über den Weg lief, würde sie ihn unauffällig nach rothaarigen Fremden fragen.
Sie presste mit finsterer Miene die Lippen zusammen. Caleb hatte ihr berichtet, dass die Gerüchte über Sams Nervosität die Runde machten. Was, wenn jemand, der nichts Besseres zu tun hatte, als anderen Leuten das Leben schwer zu machen, es für komisch hielt, Sam einen makabren Streich zu spielen? Jemand wie Teddy Brighton?
10
Ich höre auf zu spielen und stehe auf. Ich spreize die Finger und bewundere ihre Geschicklichkeit. So stark und sicher, ich habe wirklich wunderschöne Hände. Ich krümme jeden Finger einzeln, beobachte, wie die Sehnen sich dehnen oder zusammenziehen, und stelle zufrieden fest, dass jeder Muskel und jeder Nerv so arbeitet, wie er sollte. Ich lasse die Hände fallen und schlendere in die Küche. Sofort fällt das Fenster über der Spüle mir ins Auge.
Ich habe vergessen, die Jalousie herunterzulassen.
Stirnrunzelnd gehe ich durch den Raum. Meine Hand verharrt auf dem Zugband, bevor ich die Jalousie schließe. Draußen sehe ich die massigen Schatten der Kiefern, die mein Grundstück säumen. Früher habe ich diese Wälder und die Hügel dahinter durchstreift. Das tue ich nicht mehr. Dort lauern Geheimnisse, Geheimnisse so dunkel wie eine Höhle. Ein leises Lächeln huscht über mein Gesicht, weil ich so klug bin. Dunkel wie eine Höhle, das gefällt mir. Aber dann beschleunigt sich mein Atem, weil ich mich wieder erinnere, wie schrecklich dunkel das ist. Eine kalte, feuchte Dunkelheit, die einem in jede Pore dringt, während man ganz allein zusammengekauert daliegt und nach seiner Mutter schreit …
Nein. Ich reiße am Zugband, und die Jalousie fährt krachend herunter.
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