Wachen! Wachen!
noch etwas näher, und Wonses Blick reichte in die erbarmungslosen Tiefen der roten Augen –,
wir haben uns nie gegenseitig verbrannt, gefoltert und zerrissen und dafür moralisch-ethische Gründe angeführt.
Der Drache streckte mehrmals die Schwingen und hockte sich dann auf den Tandhaufen aus eher weniger kostbaren Dingen. Eine Klaue wühlte kurz in der Masse glitzernder Objekten, und dann ertönte ein verächtliches Schnaufen.
Nicht einmal eine dreibeinige Eidechse würde so etwas horten,
dachte das Ungetüm.
»Bald bekommst du wertvollere Gegenstände«, flüsterte Wonse, erleichtert darüber, daß ihm nicht mehr die volle Aufmerksamkeit des Drachen galt.
Das will ich auch stark hoffen.
»Darf ich…« Wonse zögerte. »Darf ich dir eine Frage stellen?«
Ich höre.
»Es ist doch nicht
nötig,
daß du Menschen verschlingst, oder? Ich glaube, darin sehen die Bürger der Stadt das einzige Problem, weißt du«, fügte er hastig hinzu und sprach immer schneller. »In Hinsicht auf die Schätze und so ergeben sich bestimmt keine Schwierigkeiten, aber wenn es um, äh, Protein geht, nun, vielleicht ist ein so mächtiger Intellekt wie deiner bereits auf den Gedanken gekommen, daß weniger umstrittene Nahrung, zum Beispiel Kühe…«
Der Drache spie horizontales Feuer, das eine dicke Ascheschicht an der gegenüberliegenden Wand zurückließ.
Nötig? Nötig?
donnerte er, als das Zischen, Knistern und Prasseln verklang.
Sprichst du etwa von
Notwendigkeiten?
Ist es nicht Tradition, daß die schönste aller Frauen dem Drachen geopfert wird, um Frieden und Wohlstand zu sichern?
»Nun, weißt du, wir sind immer recht friedlich und einigermaßen wohlhabend gewesen…«
MÖCHTEST DU, DASS ES DABEI BLEIBT?
Die Wucht dieser mentalen Antwort drückte Wonse auf die Knie.
»Natürlich«, brachte er hervor.
Der Drachen hob wie beiläufig die Klauen.
Dann betrifft jene Notwendigkeit nicht mich, sondern euch,
dachte er.
Verschwinde jetzt. Ich will dich nicht mehr sehen.
Wonse sackte in sich zusammen, als sich das Fremde aus seinem Bewußtsein zurückzog.
Der Drache kroch über den Haufen aus billigem Flitter, erreichte den Sims eines hohen Fensters und zertrümmerte das Glas mit dem Kopf. Das bunte Abbild eines Stadtvaters fiel in Myriaden Splittern auf den Schutt.
Der lange Hals ragte in die kühle Luft des frühen Abends und neigte sich wie eine Kompaßnadel hin und her. Erste Lichter glühten in der Stadt, und das Geräusch von einer Million Menschen, die fleißig lebten, verursachte ein dumpfes, pulsierendes Summen.
Der Drache holte tief und fröhlich Luft.
Dann zog er auch den Rest seines Körpers auf den Sims, stieß den Fensterrahmen mit einem kurzen Schulterzucken beiseite und sprang gen Himmel.
» W as ist das?« fragte Nobby.
Das Objekt war annähernd rund und hatte die Beschaffenheit von Holz. Wenn man darauf klopfte, hörte es sich an, als reibe ein Lineal über die Schreibtischkante.
Feldwebel Colon betrachtete das Ding von allen Seiten.
»Ich gebe auf«, sagte er.
Karotte zog den halbzerrissenen Karton zu sich heran.
»Ein Kuchen«, erklärte er, schob beide Hände unter den Gegenstand, spannte die Muskeln und hob ihn an. »Von meiner Mutter.« Es gelang ihm, den Kuchen auf den Tisch zu stellen, ohne daß seine Finger zerquetscht wurden.
»Kann man ihn essen?« fragte Nobby. »Er ist monatelang hierher unterwegs gewesen. Zeit genug, um trocken zu werden.«
»Oh, meine Mutter hat ihn nach einem alten Zwergenrezept gebacken«, antwortete Karotte. »Zwergenkuchen werden nicht trocken.«
Feldwebel Colon schlug noch einmal darauf. »Bist du ganz sicher?« brummte er skeptisch.
»Er hat einen unglaublich hohen Nährwert«, fuhr Karotte fort. »Ist praktisch magisch. Das Geheimnis wurde über Jahrhunderte hinweg von einem Zwerg zum anderen weitergegeben. Ein kleines Stück hiervon, und für den Rest des Tages wollt ihr nichts mehr essen.«
»Kann man sich anschließend noch auf den Beinen halten?« erkundigte sich Colon.
»Mit einem solchen Kuchen im Gepäck ist ein Zwerg in der Lage, Hunderte von Meilen zurückzulegen«, sagte Karotte.
»Ja, daran zweifle ich nicht«, murmelte Colon düster. »Und wahrscheinlich denkt er die ganze Zeit über: ›Hoffentlich finde ich bald was anderes zu essen, denn sonst kommt wieder der verdammte Kuchen an die Reihe.‹«
Für Karotte gehörte das Wort ›Ironie‹ zu den unlösbaren Rätseln des vorzugsweise in Ankh-Morpork gebräuchlichen Vokabulars. Er griff
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