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Wachgeküßt

Wachgeküßt

Titel: Wachgeküßt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Harvey
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zu gehen.
    Meine Mutter sagte immer: »Die Vergangenheit kann man nicht hinter sich lassen, sie holt einen immer ein.«
    Ich habe eine neue Variante. »Wenn man die Vergangenheit hinter sich läßt, holt sie einen nicht nur ein, sie überholt einen!«
    Ich schleiche mich, das Gesicht hinter einer Hand verborgen, an meinen Platz zurück und richte die neue Pflanze und den Computer so aus, daß man fortan Röntgenaugen braucht, um zu sehen, wer dahinter sitzt.
    Ich weiß, daß ich mich nicht für immer vor ihm verstecken kann. Dieser Mann ist mein Chef. Ich könnte kündigen, aber um das zu machen, müßte ich ihm auch gegenübertreten. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie ich mit einer über den Kopf
gestülpten Papiertüte in sein Büro marschiere und ihm erzähle, daß ich an akuter Platzangst leide und von jetzt an nur noch zu Hause arbeiten kann. Das Problem dabei ist: Eine Reisejournalistin darf nicht an Platzangst leiden, denn Leute mit Platzangst vertragen das Reisen ungefähr so gut wie ein monatealtes, in Cellophan gehülltes Käsesandwich im Nachtzug von London nach Glasgow.
    »Alex... hallooo... Erde an Alex.«
    Ich spähe über die Pflanze und sehe Nigel vor meinem Schreibtisch stehen, mit Notizbuch und Stift bewaffnet.
    »Los, komm.« Er macht mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Inneres Heiligtum, in Richtung Chefredakteur.
    »Was denn?«
    »Redaktionssitzung«, antwortet er. »Findet jetzt jeden Morgen statt.«
    »Ist nicht dein Ernst!«
    Redaktionssitzungen? Üblicherweise haben wir uns über dem Morgenkaffee ein paar Ideen wie Bälle zugeworfen. Entweder das oder einfach eine Idee herausgepickt und sie dann ausgearbeitet.
    Ich reiße mich innerlich zusammen, halte mir eine große, rote Mappe vors Gesicht, folge Nigel, schlüpfe in Jakes Büro und steuere die dunkelste Ecke an. Ich kenne diese Typen, von denen wird sich keiner die Mühe machen, mich vorzustellen. Also hoffe ich, daß es mir möglich ist, mich einfach unbemerkt irgendwohinzusetzen, die rote Mappe während der gesamten Sitzung vorm Gesicht und ich mich dann für den Rest meiner Laufbahn hinter der Topfpflanze verschanzen kann.
    Unglücklicherweise bemerke ich, wie er mich, als ich an seinem Schreibtisch vorbeigehe, gespannt ansieht und darauf wartet, daß ich mich vorstelle.
    »Ähm... Hallo.« Ich blinzele über den Rand der Mappe, meine Wimpern berühren dabei den oberen Plastikrand. »Ich bin Alex... äh... Alexandra Gray.« Äußerst zögerlich strecke ich ihm die
Hand entgegen, und zwar die, die nicht die rote Mappe krampfhaft vor mein Gesicht hält.
    »Ah, ja. Reisen. Freut mich, Sie kennenzulernen, Alexandra.«
    Er steht auf und schüttelt meine Hand, ohne das leiseste Zeichen des Erkennens. »Nehmen Sie Platz.«
    Langsam schlägt mir das Herz nicht mehr bis zum Halse, sondern kehrt wieder an seinen Stammplatz zurück, wo es weiter vor sich hin pocht, wenn auch noch nicht wieder mit der normalen Geschwindigkeit. Immerhin weiß ich jetzt, daß ich nicht sofort sterben muß.
    Er benimmt sich, als wüßte er nicht, wer ich bin.
    Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder beleidigt sein soll.
    Mir ist ja klar, daß es über eine Woche her ist, aber ich glaube nicht, mich so verändert zu haben, daß er mich nicht mehr erkennt. Immerhin hat er mehr von mir gesehen als mein Gynäkologe, aber er scheint wohl nicht besonders auf mein Gesicht geachtet zu haben. Vielleicht würde ich ihm irgendwie bekannt vorkommen, wenn ich nackt reinspazieren und mich auf sein Gesicht setzen würde? Vielleicht hat er letzte Woche auch so viele Frauen gebumst, daß alles, was von uns geblieben ist, eine gesichtslose Masse aus Körpern und Striche von Eins bis Zwanzig sind.
    Vielleicht bin ich auch nur die letzte Ergänzung seiner ganz persönlichen Liste. Oder aber er kommt sich vielleicht mißbraucht und benutzt vor und will vergessen, daß das jemals geschehen ist. Denn wie hätte ich mich wohl gefühlt, wenn die Rollen umgekehrt gewesen wären? Wenn Jake mitten in der Nacht ausgekniffen wäre? Wahrscheinlich haßt er mich. Aber so sind nun mal die Regeln, was ich ihm ja wohl kaum erklären kann. »Tut mir leid, Jake, ich wäre ja geblieben, aber Regel Nummer zwei besagt nun mal...«
    Ich kauere mich auf einen neuen, gepolsterten, steifen Lederstuhl neben einer neuen, monstermäßig aussehenden Pflanze
und versuche, während des Meetings möglichst zwischen ihren üppigen Blättern zu verschwinden.
    Während er redet, sitzt Jake lässig zurückgelehnt

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