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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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, wir beschäftigen uns mit Cassidy. Wir beschäftigen uns mit einem Mann, in dem der Mangel an Mutterliebe gewisse negative Symptome hervorgerufen hat. Ich würde dieses, das Cassidy-Syndrom, folgendermaßen beschreiben: Nummer eins Schüchternheit, stimmt’s?«
    »Stimmt.«
    »Nummer zwei Schuldgefühl. Schuldgefühl entspringend aus Cassidys geheimer Überzeugung, er habe seine Mutter aus dem Hause getrieben. Möglich?«
    »O ja«, sagte Cassidy und war wie immer gewillt, wenn das Thema er selber war, die Stichhaltigkeit eines jeden Arguments einzusehen.
    »Nummer drei Unsicherheit. Das weibliche Geschlecht, repräsentiert durch Mummy, verwarf ihn zu einem kritischen Zeitpunkt. Diese ihre Zurückweisung hat er nie verwunden und unter verschiedenen Vorwänden vergebens versucht, ihre Gunst wiederzuerlangen. Indem er zum Beispiel viel Geld verdiente und Kinder zeugte. Richtig?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Cassidy sehr verwirrt. »Ich weiß nicht genau.«
    »Seine Beziehungen zu Frauen sind dementsprechend abbittender, morbider und häufig infantiler Natur. Zum Scheitern verurteilt. Das ist der eigentliche Inhalt, nicht wahr, deiner Klage? Wie war die Nutte?«
    »Wer?«
    »Elise?«
    »Famos.«
    »Du hast sie gefickt, ja?«
    »Klar.«
    »Und sie war zufriedenstellend? Sie hat für dich ein geheimnisvolles Ritual erfunden? Oder hast du dich von ihr mit Stacheldraht auspeitschen lassen?«
    »Shamus, was ist los? Was ficht dich an?«
    »Nichts ficht mich an . Ich versuche nur, eine Diagnose zu stellen.«
    Er rollte sich auf den Rücken, hob die Cognacflasche an den Mund und trank lange. »Weiter nichts, Lover«, sagte er, jetzt auf irisch, und zeigte plötzlich ein strahlendes Lächeln. »Nur dem Teufel einen Namen geben, nichts Unrechtes. Wir können dir, weiß Gott, keine Therapie verschreiben, ehe wir die Symptome nicht diagnostiziert haben, oder?«
    Cassidy hätte sehr gern nach dem zweistündigen Telefongespräch mit London gefragt, aber er hatte bereits gelernt, daß Shamus sich nicht gern verhören ließ, also hielt er klugerweise den Mund.
    »Du bist meine Therapie«, sagte er leichthin. »Wo wollen wir essen?«
     
    Nach dem Abendessen, das sie größtenteils schweigend einnahmen, kam Shamus wieder auf das Thema der französischen Mutter zurück.
    Wie sie ausgesehen habe, wollte er wissen, während er zielbewußt an Cassidys Seite durch die dunkelnden Straßen schritt, welches seien Cassidys früheste Erinnerungen an sie, seine letzten? Wie sie geheißen habe, wenn er fragen dürfe; erinnere Cassidy sich an ihre sämtlichen Namen?
    Ella, sagte Cassidy.
    »Hatte Ella irgendein besonderes Kennzeichen, zum Beispiel ein Glasauge«, fragte er wohlwollend, aber immer noch im irischen Tonfall. »Hatte sie überhaupt ein Glasauge, die arme Seele?«
    Sie bogen in eine Seitengasse ein.
    »Nicht daß ich wüßte«, sagte Cassidy lachend.
    »Dann irgendwelche Ticks? Weißt du, ich versuche mir ein Bild von ihr zu machen, schließlich bin ich ein Schriftsteller von einigen Graden, Cassidy, oder? Mein Thema ist schließlich der Mensch in seiner ganzen unerschöpflichen Varietät und Komplexität. Ich meine, hat sie in der Nase gebohrt oder sich im Bett den Hintern gekratzt?«
    »Sie trug Kaschmirpullover«, sagte Cassidy. »Rosa war ihre Lieblingsfarbe, daran erinnere ich mich noch. Können wir jetzt das Thema abschließen, Shamus? Ich habe, ehrlich gesagt, ziemlich genug von ihr.«
    Shamus schien nicht zu hören. Sie gingen jetzt schneller. Shamus beschleunigte das Tempo und blickte zu den Straßenschildern auf, während er vorausstrebte.
    »Shamus, wohin gehen wir?«
    Sie überquerten eine Hauptstraße und tauchten wieder in ein Gewirr von Gassen.
    Ein Licht über der Tür verkündete ›Bar‹. Sie gingen hinein, Shamus voran.
     
    Mädchen saßen auf einer hufeisenförmigen Bank, sie tranken und blickten nach innen in die Spiegel, studierten ihre Körper, ihre reflektierten Gespenster. Ein paar Kuppler, ein paar Kunden, ein Automat für Pillen gegen das Rauchen.
    »Lassen Sie Mrs. Cassidy ausrufen«, rief Shamus und zog Cassidy am Handgelenk hinter sich her. Shamus’ Hand war naß, aber sein Griff war so fest wie immer. »Ihr kleiner Sohn sucht sie.« Ein paar Gesichter an der Bar drehten sich um. »Ist Mrs.  Cassidy im Lokal?« Er wandte sich zu Cassidy um. »Siehst du sie, Oedipus?« fragte er.
    »Bitte, Shamus –.«
    »Ist sie denn Chinesin, wäre das möglich?« – und wies auf eine Dame südostasiatischer

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