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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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gibt.«
    »Ich dachte, er wolle ihn umbringen.«
    »Ist das nicht das gleiche?« sagte Helen und schenkte ihm einen sehr tiefen Blick.
    »Vermutlich ja«, räumte Cassidy ein.
    »Grüßen Sie London von mir.«
    »Gern. Helen.«
    »Ja?«
    »Kann ich Ihnen ein bißchen Geld hierlassen?«
    »Nein. Shamus sagte, Sie würden fragen. Trotzdem vielen Dank.« Sie küßte ihn, kein Abschiedskuß, sondern ein Dankeskuß, leicht und präzise auf den glatten Fleck seiner Wange. »Er sagt, Sie sollten Dostojewskij lesen. Nicht die Werke, die Vita.«
    »Tue ich. Fange noch heute abend an.« Er fügte hinzu: »Ich lese nicht viel, aber wenn ich lese, dann nehme ich mir Zeit dazu.«
    »Er wird in ein, zwei Wochen rauffahren. Sobald er das Buch fertig hat, wird er in die Stadt kommen und sämtliche Manager und Agenten und Leute aufsuchen. Dabei will er lieber allein sein.« Sie lachte resigniert. »Er nennt es, seine Batterien aufladen.«
    »Die Ganeffs«, sagte Cassidy.
    »Die Ganeffs«, sagte Helen.
    Die Morgensonne sprang plötzlich durch die Araukarienbäume und erhellte die Ziegel des Hauses zu einem warmen fleischfarbenen Rosa.
    »Bestellen Sie ihm, er soll mich in der Firma anrufen«, sagte Cassidy. »Steht im Telefonbuch. Jederzeit, ich bin immer für ihn zu sprechen.«
    »Keine Sorge, er ruft an.« Sie zögerte. »Übrigens, erinnern Sie sich, gestern abend boten Sie Shamus ein Schweizerhaus zum Arbeiten an.«
    »Ach, das Chalet. Ja. Ja, natürlich. Spannungsreicher Hang. Ha.«
    »Er sagt, er werde sie vielleicht beim Wort nehmen.«
    »Du meine Güte«, sagte Cassidy dankbar, »das wäre wunderbar.«
    »Er kann es nicht versprechen.«
    »Nein, natürlich nicht.«
    Ein kurzes schweigendes Flehen: »Cassidy.«
    »Ja?«
    »Sie werden nicht abspringen, nein?«
    »Natürlich nicht.«
    Wieder küßte sie ihn, ohne Hast, diesmal auf den Mund, so wie Schwestern ihre Brüder küssen, wenn sie sich keine Gedanken mehr wegen Inzests machen.
    So verließ Cassidy Haverdown, den Geschmack ihrer Zahncreme auf den Lippen und den Geruch ihres einfachen Talkumpuders in der Nase.

8
    Bohème .
    Das war sein erster Gedanke und hielt ihn auf dem ganzen Weg bis Bath in gehobener Stimmung. Ich habe das Land der Bohemiens besucht und bin heil davongekommen. Es war Jahre her, seit er zuletzt einem Künstler begegnet war. In Oxford stand seinerzeit ein altes Haus nah an der Foley-Brücke, von dem es hieß, es beherberge einige, und manchmal, wenn er auf dem Weg zu den Scala-Lichtspielen daran vorbeikam, hatte er ihre Kleider vom Eisenbalkon hängen oder eine Batterie leerer Flaschen aus den Mülleimern quellen sehen.
    Sonntags, hatte er gehört, versammelten sie sich in der George Bar, die Männer trugen Ohrringe, und die Frauen rauchten Zigarren, und er stellte sich vor, daß sie miteinander über die erstaunlichsten Dinge aus ihrer Intimsphäre sprachen. Im Internat hatte er einen Zeichenlehrer gehabt, den sie Tüncher nannten, einen sanftmütigen Mann mittleren Alters, der Umlegekragen trug und die Jungen füreinander in der Turnhose Modell sitzen ließ. An einem Mittwoch war Cassidy einmal allein bei ihm zum Tee gewesen, aber der Lehrer hatte kaum ein Wort gesprochen, nur melancholisch gelächelt und zugesehen, wie Cassidy heiße Hefekuchen aß. Abgesehen von diesen dürftigen Erfahrungen war seine Kenntnis der Spezies gleich Null, obwohl er sich lange Zeit als Ehrenmitglied betrachtet hatte.
    In Bath machte er halt, ging in sein Hotel, um sein Gepäck zu holen und die Rechnung zu bezahlen, und sah mit flüchtiger Erregung die Stätten ihrer nächtlichen Ausschweifungen im hellen Tageslicht. Mieses Städtchen, dachte er. Ein Vatikan der Proleten. Und schwor sich, nie mehr herzukommen.
    Er hatte sich im Hotel als Viscount Cassidy of Mull eingetragen.
    »Haben Mylord einen angenehmen Aufenthalt gehabt?« erkundigte der Kassierer sich mit größerer Vertraulichkeit, als Cassidy angemessen fand.
    »Durchaus, vielen Dank«, sagte er und gab dem Portier zwei Pfund.
     
    Der Prozeß des Abspringens, den Helen so genau vorhergesagt hatte, setzte daher erst in der Gegend von Devizes ein. Während der ersten Fahrtstunde, ehe sein Katzenjammer die Form einer wohlverdienten Strafe annahm, blieb Cassidy zwar verwirrt, aber immer noch freudig erregt über seine Begegnung mit Helen und Shamus; es war ihm nicht recht klar, was er empfand; seine Stimmung schien mit der Landschaft zu wechseln. Auf der Autostraße nach Frome, wo blaue Ebenen sich rechts und links

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