Wachsam
quirlte. Cassidy schloß die Pyjamaknöpfe, einen nach dem anderen, dann legte er sanft die flache Hand auf die trockene Stirn des Kindes. Na, wenigstens war ihm nicht zu heiß. Er lauschte und betrachtete ihn aufmerksam im gesprenkelten Zwielicht. Vor der Geräuschkulisse des nie schlafenden Verkehrs kam und ging der Atem des Jungen in kleinen regelmäßigen Zügen. Soweit war offenbar alles in Ordnung, aber warum lutschte er am Daumen? Ein Siebenjähriger lutscht nicht am Daumen, außer wenn es ihm an Liebe gebricht. Cassidy seufzte im stillen. Hugo, dachte er, o Hugo, glaube mir, mein Sohn, das gilt für uns alle. Er kniete nieder und inspizierte eingehend die Außenflächen des Gipsverbandes, forschte nach den verräterischen Furchen, die auf eine zweite Fraktur hindeuten mochten; doch das Licht von draußen reichte nicht aus, und er konnte nichts anderes sehen als Sgraffiti und mit Filzstift aufgemalte Häuschen.
Ein Lastwagen klomm den Hügel hinan. Im Nu war er auf den Füßen, zog die Gardine und schloß das Fenster vor den Abgasen. Der Junge regte sich, er legte den Unterarm über die Augen.
Soviel Unschuld, dachte Cassidy hoffnungslos, soviel tragische Unschuld soll es mit dem grausamen Strom des Lebens aufnehmen.
Ein Schlüssel drehte sich in der Vordertür.
»Hei, Reiseonkel«, rief Sandra.
Ein vorbereiteter Gruß, der modernen Humor ausdrücken sollte.
»Hallo«, sagte Cassidy.
Ihre Schritte blieben stehen.
»Ist das alles, was du zu sagen hast?« fragte sie aus der Diele.
»Was sollte ich denn sonst sagen? Du sagst ›hei‹, ich sage ›hallo‹. Ich finde, er müßte zu einem Spezialisten gebracht werden, du findest es nicht.«
Er wartete. Sie brachte es fertig, minutenlang so stehenzubleiben; wer sich zuerst bewegte, hatte verloren. Sie verlor, langsam ging sie die Treppe hinauf zu ihrer Mutter.
London 1
9
Lieber Mark
Der Brief klebte an ihm wie ein feuchter Schwaden. Platt, unanschaulich; ein Nachtisch-Brief, ein Griff nach einer Stärkung, die er gar nicht wollte. Ein Brief, der nicht von Herzen kam, sondern von der Leber.
Der Briefkopf lautete 12 Abalone Crescent, aber er schrieb aus der South Audley Street, wo er mehr Ruhe fand. Cassidys Büro hatte Ähnlichkeit mit Cassidys Wagen: ein Mahagoni-Bollwerk gegen die unkalkulierbaren Risiken des Erdendaseins. In der Audley Street war er nicht Aldo oder Cassidy, sondern Mister Aldo , ein christlicher Vorname, dem man mit christlicher Ehrfurcht begegnete. In Audley Street betrat kein Fuß den Boden, keine Tür schnappte in ihren Rahmen, denn Polsterungen aller Art dämpften jeden Aufprall. Sogar die verschiedenen Telefone auf seinem Queen-Ann-Schreibtisch waren entschärft worden: Anstatt des heiseren Weiberkreischens, das ihn schon als Kind nervös gemacht hatte, gaben die Apparate nur ein zufriedenes, ja befriedigtes Schnurren von sich, womit sie nicht Ärger oder Panik erwirken wollten, sondern eine Liebkosung ihres weißen, unterwürfigen Rückgrats.
Also, mein Sohn, wie geht’s Dir? Ich beneide Dich, ich möchte selber gern in der ländlichen Stille von Dorset sein anstatt in diesem Getriebe und hektischen Gehetze, das im Konkurrenzkampf unserer Tage immer mehr das Los des redlichen Geschäftsmannes zu sein scheint, der um sein Brot ringt! Wenigstens ist das Wetter auch weiterhin mild, alles übrige aber ist Arbeit, Papierkrieg und immer noch härterer Kampf mit der ausländischen Konkurrenz.
Manchmal ist man wahrhaftig drauf und dran, sich zu fragen, ob die Sache überhaupt noch der Mühe wert sei. Sogar meine bescheidenen Bemühungen, einiges für unsere weniger vom Glück begünstigten Gemeindemitglieder zu tun, scheinen zum Scheitern verurteilt zu sein – Du würdest entsetzt sein über den Geiz und den Egoismus der alteingesessenen Kreise, wenn es gilt, an einem Projekt zur Unterstützung und Förderung der Jugend mitzuarbeiten. Sogar die Bristol Corporation, auf die ich die größte Hoffnung gesetzt hatte, hat plötzlich kalte Füße bekommen, und nun stehen wir wieder am Anfang. Trotzdem, keine Müdigkeit vorschützen, wie das Schulmotto heißt. Wir bereiten uns sehr sorgfältig auf die Pariser Messe vor, apropos, falls Du jemals in die Firma eintreten solltest, wozu ich Dich, wie Du weißt, nicht zwingen will, so könnte die Exportabteilung durchaus ein attraktiver Einstieg für Dich sein, immer vorausgesetzt, daß Dein Französisch sich sehen lassen kann …
Sein Blick fiel auf ein Bündel grüngerandeter und
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