Wachsam
über Marks Operation wartete. Es lag zwischen einem Friedhof und einem Kindergarten und nannte sich Walhalla. Kein bestimmter Impuls hatte ihm den Weg gewiesen, nur ein Gefühl der Leere, der inhaltlosen, kontaktlosen Muße hatte mit Gottes Hilfe die Schritte des ruhelosen Vaters gelenkt. Er hatte von Marble Arch aus die Klinik angerufen: Fragen Sie um sieben Uhr nochmals nach, dann würde man wissen, ob die Operation gelungen war.
Auf seiner Wanderung war er auf einen Friedhof geraten, gebückt von Stein zu Stein gegangen und hatte nach begrabenen Cassidys geforscht. Und war auf dieser Suche einer Bewegung, sogar einer gezielten Strömung in der Menge gewahr geworden. Junge Männer in Sonntagsuniform, die bislang planlos in Gruppen herumgestanden hatten, blickten auf ihre Uhren, formierten sich in Reihen und entfernten sich. Nicht lange danach stieg ein würdiger Mann im violetten Smoking aus einem Taxi und eilte ihnen nach; er trug etwas, das aussah wie eine Donnerbüchse in einer Art Kunstlederkoffer.
Dann geschah ein Wunder.
Der lila Frack war kaum durch das schmale Gittertürchen verschwunden, als ein Schwarm junger Mädchen, auf unsicheren langen Beinen tanzend und schwankend, bunt wie tropische Vögel in ihren dünnen Blusen und Glockenröcken, strumpflos, vielleicht höschenlos, aus dem offenen Himmel herabpurzelten, zu seinen Füßen landeten und auf dem gleichen geheimnisvollen Pfad an ihm vorbeihuschten. Gebannt folgte Cassidy ihnen, seine Fantasie schweifte zwischen den wildesten Visionen. Welches Ritual, welche Zeremonie wurde hier vollzogen? Eine Hinrichtung? Ein Prophet? Oder eine Orgie nach dem Muster skandinavischer Teenager? Zeit, Ort, sogar Vorsicht waren außer Kraft. Er empfand nur die nahe Erfüllung, die seine Zunge austrocknete und seine Lenden quälte. Er schwebte. Ein orgastischer Taumel trug ihn über den städtischen Makadam. Bäume, Teiche, Zäune, Mütter; in einer einzigen Wolke streiften sie die äußersten Kanten seines Blickfelds, geleiteten ihn die geheime Grenze entlang.
Die Bauchfellentzündung war vergessen. Mark war genesen.
Er lebte nur da vorne, in dem bunten Geschwader, in den hochfliegenden Kruppen und gefiederten Hüften, im Hauch von Babypuder, der hinter ihnen herwehte. Einmal stolperte er, einmal hörte er, wie ein Hund ihn anbellte, einmal schrie ein alter Mann: »He, passen Sie doch auf«, aber da war er schon drinnen, das Billett zu drei Shilling lag wie eine Hostie in seiner Hand. Rund um ihn jagten farbige Sterne durch die fensterlose Kirche. Von einem Hochaltar herab donnerten schwankende Priester eine Musik, die er beinah mitsummen konnte.
Er tanzte.
Tanzte auf Armlänge mit stummen Mädchen. In engem Reigen rund um ihre auf dem Boden liegenden Handtaschen. Scharrte Zauberkreise in den Speckstein. Ihre Namen erfuhr er nie. Wie Nonnen, die Schweigen gelobt hatten, nahmen sie ihn, trösteten sie ihn mit der Leidenschaftslosigkeit einer höheren Hingabe und wandten sich von ihm ab zu anderen Beladenen. Ein paar, nicht viele, lehnten ihn aus Altersgründen ab; einige verließen ihn, weil er schwerfällig war oder weil ein begehrterer Partner dazwischenkam. Doch er wehrte sich nicht: Ihre Ablehnung war eine Disziplin, die ihn noch enger an ihre undurchdringliche Gemeinschaft band.
»Na«, sagte eine Brünette, »wer wird denn ein solches Gesicht ziehen!«
»Verzeihung«, sagte Cassidy und lächelte.
Das waren die Mädchen, die er lieben konnte. Die Mädchen, die in Autobussen an ihm vorbeigingen und Schaufenster dekorierten, für ihn als Sekretärinnen arbeiteten, ihn vom Bürgersteig aus anlugten, wenn er in Taxis saß, das waren seine Kindermädchen, seine Galionsfiguren, alterslos schön auf wetterwendischer See.
»Sie können mich nach Hause bringen, wenn Sie wollen«, sagte eine Blonde, »wenn Sie mir ein hübsches Geschenk machen!«
Aber Cassidy lehnte ab. In der Welt, die sie für ihn bewohnten, hatten solche Mädchen kein anderes Zuhause als dieses.
Er fuhr von Haverdown aus direkt hin, viereinhalb Stunden lang starrte er durch die Windschutzscheibe. Diesmal fuhr er hin, um sich selber zu kurieren, mit der gleichen Kur, die Mark geheilt hatte. Er fuhr ohne eine Pause, ohne Mahlzeit, dachte an nichts, denn es gab nichts mehr. Er parkte an einer Parkuhr und ging die letzten zweihundert Meter zu Fuß. Ein Unbekannter, auch für sich selber. Die Walhalla war verschwunden. Nicht beschlagnahmt. Nicht von einer Universität oder einem Supermarkt
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