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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Kuttner
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inzwischen gemerkt, dass jetzt gleich was gesagt werden soll, und verstummen nacheinander. Als Thea die gesamte Aufmerksamkeit der Gäste hat, scheint sie davon doch etwas überfordert, und so richtet Arne das Wort an alle. Während die Blicke der meisten Menschen nun auf dem schüchternen Brautpaar ruhen, fummle ich in meinem Ausschnitt rum. Meine Haut nimmt langsam Anlauf, und ich wünschte, ich wäre an einem Ort, an dem man ohne Kleidung sein könnte.
    Und so reibe ich mir unauffällig das flache Tal zwischen meinen Brüsten und starre auf die zwei wichtigsten Menschen des Abends. Weil die Reprise der Eheversprechen nicht unmoderiert ablaufen soll, hat sich inzwischen jemand, der vermutlich der Trauzeuge ist, zu den beiden gesellt, ein paar nicht so überzeugend auswendig gelernte Anekdoten dargeboten und sich zwischen die beiden gestellt, so dass man sich nun unter Aufsicht in die Augen sehen und Liebe versprechen kann. Ich bin genervt. In erster Linie von mir. Weil es mir nicht möglich scheint, diesen fremden und eigentlich so liebevollen Akt vollkommen wertfrei anzunehmen. Nicht zu urteilen, nicht zu belächeln. Stattdessen führe ich innerlich Listen, auf denen das eher tantige Kleid von Thea, der furchtbar nervöse und ungleich unwitzige Trauzeuge, die spießige Sitzordnung und der Kopfschmerz-Sekt landen. Ich beobachte die mir fremden Freunde und letztendlich auch die zu feiernde Liebe mit hochgezogener Augenbraue.
    Und während sich Arne und Thea denkbar platte, aber dann eben doch sehr liebevolle Worte aufsagen, sie eher nuschelnd und teilweise vor Ergriffenheit über das eigene Ritual stockend vortragen, erwischt es mich vollkommen unerwartet. Ich fange an zu weinen. Keine feuchten Augen der Rührung, keine Fächel-Tränen, sondern richtige dicke Tränen. Erschrocken über das viele Wasser, sehe ich hilfesuchend zu Flo, der eher verstört als gerührt zurückblickt. Ich lächle zur Entwarnung schief und forme wortlos das Wort »Taschentuch«. Flo zuckt die Schultern, schüttelt den Kopf und zeigt auf die weißen, steifen Stoffservietten am Tisch. Immer noch weinend, zeige ich ihm einen Vogel und ziehe leise den sich bildenden Rotz zurück in meinen Körper. Unglaublich, dass ich auf einer Hochzeit bin und keine Taschentücher dabeihabe. Zu meiner großen Erleichterung bemerke ich, dass im gesamten Raum geraschelt und geschnäuzt wird, ich nicht die Einzige bin, die sich vom Klischee hat kriegen lassen. Also lehne ich mich und mein nasses Gesicht einfach zurück und höre weiter zu. Die Worte des Brautpaares dringen allerdings nur noch dumpf zu mir durch, zu sehr bin ich von meinem plötzlichen Gefühlsausbruch überfordert. Benimmt sich mein Körper einfach nur dem Anlass entsprechend? So wie er es im Fernsehen gelernt hat? Gehört Weinen auf Hochzeiten eben dazu, und ich mache einfach nur alles richtig? Weil ich ja eben auch bei traurigen Liedern und rührenden Filmszenen weinen muss? Wieder sehe ich Flo an, der aber grade seiner Nachbarin die Stoffserviette anbietet, und spüre, dass meine Tränen, neben der tatsächlich klassischen Rührung, auf echtem Schmerz beruhen. Nahezu unbemerkt hat sich beklemmende Traurigkeit in meinen Körper geschlichen und hält sich mit winzigen Krallen in mir fest. Vollkommen verblüfft über dieses Gefühl, so fehl am Platz, höre ich auf zu weinen und staune.
    Da das Brautpaar nun aber fertig und das Bufett eröffnet ist, kann ich grad nicht mein eigener Siggi Freud sein. Ich muss diesen unerwarteten Gast Traurigkeit vorerst im Gästezimmer lassen (gehen möchte er offensichtlich nicht) und mich später mit ihm befassen. Ich stehe auf und deute Flo, dass ich aufs Klo gehe. Er nickt, steht seinerseits auf und streicht sich die Hose glatt.
     
    »Na, warste doch ein bisschen gerührt, wa?«, fragt Flo feixend, als wir in der Bufettschlange stehen. Nicht willens, meine plötzliche Unsicherheit zu teilen, nicke ich einfach zustimmend und baue Türme aus Minibuletten und Spreewaldgurken auf meinem Teller.
    Zum Essen dürfen Flo und ich dann endlich nebeneinandersitzen, haben wir beschlossen, und auch der schlimme Martin empfindet nun wohl den offiziellen Part als vorüber oder einfach nur Flos Sitznachbarin interessanter als mich.
    Nach dem Essen beginnt der Teil, in dem alle auf- und rumstehen, sich Freunde und Bekannte mischen, kumpelhaft auf die Schultern boxen, sich Komplimente für die Ausgehkleidung machen und dem Brautpaar zumindest kurz persönlich

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