Wachstumsschmerz
Brautpaar. Wir haben sogar mehrere Fotos davon gemacht!«
Mein Rauchpartner ist bei seiner zweiten Zigarette angelangt und sieht mich abschätzend an. »Ich sag Ihnen mal eines, liebe Frau Luise. Das Brautpaar wird heute Nacht noch sehr dankbar dafür sein, Ihre Scheine einfach nur aus einem Umschlag nehmen zu können und nicht aus einem Bottich voller Götterspeise pulen zu müssen. Originalität wird überschätzt. Ganz besonders von euch jungen Menschen. Immer wollt ihr etwas Besonderes sein. Auffallen. Gesehen werden.« Er schüttelt den Kopf und tritt seine nur zur Hälfte gerauchte Busfahrer-Zigarette auf dem feuchten Boden aus.
»Wir sollten unsere gutgekleideten Hintern hineinbewegen, sonst fängt der ganze Spaß noch ohne uns an. Wenn Sie aber später entbehrlich sind, sollten wir unbedingt miteinander tanzen.«
»Mit Vergnügen!«, sage ich und rauche meine Zigarette fertig, während mein Tanzpartner in spe schon in die Scheune schlurft.
Da Arne und Thea ja bereits heute früh offiziell verheiratet wurden, ist jetzt kein Geistlicher/Standesbeamter vor Ort, um den Bund fürs Leben noch einmal für alle Freunde und Bekannte zu schließen. Um die Gäste nicht zu enttäuschen, stehen die beiden nun trotzdem sehr würdevoll vor allen, um sich zumindest noch mal ein offizielles Versprechen zu geben. Eine hübsche Geste und durchaus auch in meinem Sinne, schließlich gibt es so noch mehr Zeugen und der Druck, das Versprechen zu halten, dürfte somit um einiges steigen.
Da ich das Brautpaar eigentlich gar nicht kenne, fühle ich mich ein wenig deplatziert. Natürlich ist Arne ein sehr guter Freund von Flo, er hat beim Umzug geholfen, und wir sehen uns ab und zu beim Ausgehen oder in der Kletterhalle. Häufiger aber eben nicht. Thea hingegen sehe ich heute zum ersten Mal. Die beiden sind schon seit zwei Jahren zusammen, offensichtlich teilen sie aber nicht die Leidenschaft fürs Klettern oder Ausgehen.
Zwei Jahre. Eine so irrsinnig kurze Zeit. Ich war schon mehrfach mit jemandem so lange zusammen. Und nach zwei Jahren auch immer noch sehr glücklich. Zwei Jahre garantieren nichts! Weshalb machen sich die beiden da vorne nicht in die Hose vor Angst? Woher nehmen die beiden denn dieses verdammte Grundvertrauen in ihre Zusammengehörigkeit? Dass all das für den Rest ihres Lebens halten wird? Ich sehe zu Flo hinüber, der immer noch mit seiner Sitznachbarin tuschelt. Wie sie diesen für sie vollkommen neuen Flo wohl sieht? Was ihr als Erstes aufgefallen ist? Flos Augen? Sein Charme? Sein Humor?
Als ich Flo das erste Mal getroffen habe, war ich ganz hin und weg von seinen Wimpern. Mein Freund hat dichte und lange dunkelblonde Wimpern. Wie ein schöner, schmaler Schnurrbart auf den Augenlidern. Immer wenn er blinzelt, erwarte ich instinktiv einen kleinen Wind. Wie von einem kleinen Fächer. Die Wimpern hat sie bestimmt schon gesehen.
Ich mochte auch sofort, dass Flo witzig ist. Schlau und witzig. Ob seine Sitznachbarin das auch gleich bemerkt hat? Sie kann noch nicht wissen, dass er zudem ein sehr milder und liebenswerter, aber eben auch enorm konfliktscheuer Mann ist. Sie weiß nicht, dass Flo zwar gerne isst, aber nicht kochen kann. Gar nichts. Noch nicht mal Rührei. Sie kennt ihn auch nicht annähernd genug, um zu wissen, dass Flo manchmal schnarcht, aber deshalb nie im Bett geschubst werden muss, weil er immer selbst davon wach wird. Und man sieht Flo natürlich auch nicht an, dass er dazu neigt, den Kopf bei Sturm in den Sand zu stecken, in der Hoffnung, dass es ihm schon nicht den noch raushängenden Arsch wegweht. Nach vier Jahren weiß ich das. Wusste es schon nach sechs Monaten. Und bin immer noch da.
Wir
sind immer noch da.
Unter meinem Kleid fängt plötzlich meine Haut an zu meckern. Ganz leise, aber spürbar. Noch kein richtiges Brennen, aber es prickelt. Zwischen den Brüsten. Als würde meine Haut aus gegebenem Anlass in der Herzgegend nerven wollen.
»Ähm, hallo«, sagt Thea, die schon seit ein paar Minuten mit Arne auf der zukünftigen Tanzfläche steht, sich aber bis eben wohl noch nicht mit ihm einigen konnte, wer denn nun zuerst das Wort an die Gäste richten soll, viel zu leise.
Arne flüstert ihr etwas ins Ohr, was Thea mit einem Strichmund quittiert. Ich muss grinsen und sehe zu Flo, der diesen winzigen Moment der Missstimmung auch gesehen und mit einem Lächeln bedacht hat.
»Ähm, hallo«, sagt Thea noch mal, dieses Mal nur unwesentlich lauter, aber die Anwesenden haben
Weitere Kostenlose Bücher