Wachtmeister Studer
Morgen schrieb Wachtmeister Studer seinen Rapport. Das Bureau roch nach Staub, Bodenöl und kaltem Zigarrenrauch. Die Fenster waren geschlossen. Draußen regnete es, die paar warmen Tage waren eine Täuschung gewesen, ein saurer Wind blies durch die Straßen und Studer war schlechter Laune. Wie sollte man diesen Rapport schreiben? Vielmehr, was schreiben, was auslassen?
Da rief eine Stimme von der Türe her seinen Namen.
»Wa isch los?«
»Der Untersuchungsrichter von Thun hat telephoniert. Du sollst nach Gerzenstein fahren… Du hast doch gestern den Schlumpf verhaftet! Wie ist's gegangen?«
– Der Schlumpf habe ihm durchbrennen wollen auf dem Bahnhof, sagte Studer, aber es habe nicht gelangt. Dabei blieb er sitzen und schaute von unten her auf den Polizeihauptmann.
»Eh«, sagte der Hauptmann, »dann laß den Rapport sein. Kannst ihn später schreiben. Fahr jetzt ab. Am besten wär's, du würdest noch ins Gerichtsmedizinische gehen. Vielleicht erfährst du etwas.«
Das habe er sowieso machen wollen, sagte Studer brummig, stand auf, nahm seinen Regenmantel, trat vor einen kleinen Spiegel und bürstete seinen Schnurrbart. Dann fuhr er zum Inselspital.
Der Assistent, der ihn empfing, trug eine wunderbar rot und schwarz gewürfelte Krawatte, die unter dem steifen Umlegkragen zu einem winzigen Knötchen zusammengezogen war. Wenn er sprach, legte er die Finger der einen Hand flach auf den Ballen der anderen und musterte mit kritischer, leicht angeekelter Miene seine Fingernägel.
»Witschi?« fragte der Assistent. »Wann ist er gekommen?«
»Mittwoch, Mittwochabend, Herr Doktor«, antwortete Studer und gebrauchte sein schönstes Schriftdeutsch.
»Mittwoch? Warten Sie, Mittwoch sagen Sie? Ach, ich weiß jetzt, die Alkoholleiche …
»Alkoholleiche?« fragte Studer.
»Ja, denken Sie, 2,1 pro Mille Alkoholkonzentration im Blut. Der Mann muß gesoffen haben, bevor er erschossen wurde… Na, ich sage Ihnen, Herr Kommissär…«
»Wachtmeister«, stellte Studer trocken fest.
»Wir sagen bei uns Kommissär, es klingt besser. Verstehen Sie, bitte, nicht nur die Alkoholkonzentration, aber der Zustand der Organe, ich sage Ihnen, Herr Kommissär, so eine schöne Lebercirrhose habe ich noch nie gesehen. Fabelhaft, sage ich Ihnen. War der Mann nie in einer Irrenanstalt? Nicht? Nie weiße Mäuse gesehen oder Kinematograph an der Wand? Kleine Männer, die tanzen, wissen Sie? So einen schönen, richtiggehenden Delirium tremens? Nie gehabt? Ah, Sie wissen nicht. Schade. Und ist erschossen worden! Schätzungsweise eine Meter Distanz, keine Pulverspuren auf der Haut, darum ich sage eine Meter. Sie verstehen?«
Studer grübelte während des Wortschwalles über eine ganz nebensächliche Frage nach: welcher Nationalität der junge Mann mit dem kleinen Krawattenknötchen angehören könne… Endlich, auf das letzte: ›Sie verstehen?‹ war er im Bilde.
»Parla italiano?« fragte er freundlich.
»Ma sicuro!« Der Freudenausbruch des andern war nicht mehr zu bremsen und Studer ließ ihn lächelnd vorbeirauschen.
Der Assistent war so begeistert, daß er Studers Arm zärtlich unter den seinen nahm und ihn in das Innere führte. Der Professor sei noch nicht da, aber er, der Assistent, sei genau so auf dem laufenden wie der Professor. Er habe selbst die Sektion gemacht. Studer fragte, ob er Witschi noch sehen könne. Das war möglich. Witschi war konserviert worden. Und bald stand Studer vor der Leiche.
Dies also war der Witschi Wendelin, geboren 1882, somit fünfzig Jahre alt: eine riesige Glatze, gelb wie altes Elfenbein; ein armseliger Schnurrbart, hängend, spärlich; ein weiches, schwammiges Doppelkinn… Am merkwürdigsten aber wirkte der ruhige Ausdruck des Gesichtes.
Ruhig, ja. Jetzt, im Tode. Aber es waren doch viel Runzeln in dem Gesicht… Gut, daß der Mann Witschi seine Sorgen los war…
Auf alle Fälle war es aber kein Säufergesicht und darum sagte Studer auch:
»Er sieht eigentlich nicht aus wie ein Wald- und Wiesenalkoholiker…«
»Wald und Wiesenalkoholiker!« Wunderbarer Ausdruck!
Die beiden begannen zu fachsimpeln. Zwischen ihnen lag noch immer der Körper des toten Witschi. So wie er da lag, war die Wunde hinter dem Ohr nicht zu sehen. Und während Studer mit dem Italiener über einen Fall von Versicherungsbetrug diskutierte, der in der Fachliteratur Aufsehen erregt hatte (ein Mann hatte sich erschossen und den Selbstmord als Mord kamoufliert), fragte Studer plötzlich:
»So etwas wäre hier nicht
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