Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
der Bus ins Wasser gestürzt war, war ihr Leben zu einem Albtraum geworden. Sie wartete, bis Em die Militärstiefel mit den schweren Sohlen über die Fensterbank gezogen und den schwarzen Minirock glattgestrichen hatte, bevor sie zu sprechen begann.
»Ich schätze, das reicht für ein Jahr Hausarrest.«
Ihre Tochter fuhr zusammen, rammte mit dem Ellbogen die massive Arbeitsplatte des Schreibtischs und stieß einen Papierstapel zu Boden. Doch der Schreck, ertappt worden zu sein, hielt nicht lange vor. Ems Schultern nahmen rasch wieder ihre trotzige Ist-mir-doch-egal-Haltung an. »Wofür? Im Dunkeln spazieren zu gehen?«
»Verbotenerweise abzuhauen.«
»Ach was, ich habe nichts verbrochen.«
»Du bist vierzehn, Emily. Viel zu jung, um nachts um eins auf den Straßen herumzulaufen.« Rachel starrte ihre heranwachsende Tochter an. Vor noch nicht allzu langer Zeit war Ems Lieblingsfarbe Hellblau gewesen. Jetzt trug sie dicken schwarzen Eyeliner, klumpige Mascara und eine silberne Spinne in der gepiercten Stelle ihrer Nase. Früher hatten sie stundenlang über alle möglichen Themen gesprochen. Jetzt waren Gespräche bei ihnen genauso Mangelware wie zehnkarätige Diamanten. Rachel kannte ihr eigenes Kind nicht mehr. »Das ist nicht ungefährlich.«
»Es ist nichts passiert, oder?«
»Darum geht es nicht. Es
hätte
etwas passieren können. Unfälle sind nie reiner Zufall. Sie sind Fehler. Sie geschehen, wenn man etwas nicht zu Ende denkt.«
»Was hätte ich denn zu Ende denken sollen? Es war ein Spaziergang.«
»Ach, Em. Es ist mitten in der Nacht.« Rachel seufzte.
»Meinetwegen.« Em zuckte die Achseln. »Das mit dem Hausarrest zieht jedenfalls nicht. Du bist doch sowieso nie zu Hause.«
Der Hieb saß. Normalerweise wachte Rachel um sieben Uhr auf, zog sich an, bereitete das Pausenbrot vor und schob ihre Tochter rechtzeitig zur Tür hinaus, damit sie nicht den Schulbus verpasste. Doch eine Stunde später fuhr sie zur Arbeit und kam meistens erst nach sechs Uhr nach Hause. Em war jeden Tag mindestens drei Stunden lang auf sich allein gestellt. »Ich werde MrsMendelson bitten, bei dir zu bleiben.«
Ein verächtliches Schnauben. »Ach, wirklich? Die alte Schachtel ist doch schon hundert. Wenn ich abhauen will, kann sie mich schlecht daran hindern.«
»Du machst keine solchen Spaziergänge mehr!«
Em warf den Kopf zurück. »Tatsächlich?«
»Ja!« Rachel warf Em ein gebundenes Buch vor die Füße. Es schlitterte auf dem Boden entlang, bis es zwischen leeren Kaugummipapieren und einem Haufen abgelegter Kleidungsstücke liegen blieb. »Ich habe dein Tagebuch gelesen. Du triffst dich mit einem Jungen, der ein Motorrad fährt.«
Em erstarrte. »Du hast mein Tagebuch gelesen?«
»Ja, das habe ich.«
»Hallo? Von welchem Planeten stammst
du
denn? Tagebücher sind Privatangelegenheit.«
»Normalerweise hätte ich das auch nicht gemacht«, gab Rachel zu und errötete in der Dunkelheit, »aber du hast mir schließlich keine Wahl gelassen. Seit dem Busunfall führst du dich so seltsam auf. Du gehst nicht ans Handy, wenn ich von der Arbeit aus anrufe, zeichnest bizarre Bilder, und jetzt schleichst du dich mitten in der Nacht aus dem Haus. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«
»Hast du vielleicht mal daran gedacht, mich zu fragen?«
Rachel sah auf ihre Füße. »Fragen? Glaub mir, Em, das habe ich versucht. Aber jedes Mal, wenn ich ein Gespräch anfange, bekomme ich nur ein Knurren, Achselzucken oder verdrehte Augen zur Antwort. Du machst es mir nicht gerade leicht.«
Em bückte sich und band ihre Schnürsenkel auf. »Du scherst dich einen Dreck um meine Meinung.«
»Das ist doch gar nicht wahr. Ich will nur –«
»Egal, was auch immer.« Sie stieß die Stiefel in eine Zimmerecke und wühlte so lange in dem Kleiderhaufen auf dem Boden herum, bis sie schwarze Seidenboxer und ein überdimensionales schwarzes T-Shirt mit einem Totenschädel darauf zutage förderte. »Ich bin müde. Ich will jetzt schlafen.«
»Nein. Schließ mich nicht aus deinem Leben aus, Em. Ich will dich verstehen. Wirklich. Sag mir doch, warum du dich so verhältst, warum du dich mitten in der Nacht fortschleichst.«
Ihre Tochter richtete sich auf. »Du kapierst es einfach nicht.«
»Was kapiere ich nicht?«
»Mich, mein Leben, eben alles.«
»Dann erklär’s mir.« Rachel legte Em die Hand auf den Arm. Sie erinnerte sich an jene Tage, als eine viel jüngere Em fröhlich nach Hause gekommen war und über alles geplappert hatte,
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