Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
dass sie die richtige Stelle erreicht hatten, grub sie Lachlan die Fingernägel in die Schulter und rief: »Halt!«
Zu ihrem Erstaunen gehorchte er, ohne zu fragen. Abrupt drehte er sich um, schob sie hinter sich – und sah sich dem Dämon gegenüber, der keinen Meter von ihnen entfernt stand.
»Willst du etwa davonlaufen, MacGregor? Das kann ich kaum glauben«, spottete Drusus.
»Lass sie gehen. Das ist eine Sache zwischen dir und mir.«
Rachel spähte hinter Lachlans breitem, nacktem Rücken hervor. Sie entdeckte ein rotes Glühen in Drusus’ Augen und erschauerte.
»Die Zeit der Großzügigkeit ist vorüber«, knurrte der Dämon. Nun war nichts Charmantes mehr an ihm. Seine Haut war dunkel und fleckig, und der Gestank heißer Kohle begleitete seine Worte. »Ich habe sie einmal gehen lassen. Das wird nicht wieder geschehen. Wenn sie ihre letzten Augenblicke unbedingt in deiner Gesellschaft verbringen will, dann soll es eben so sein.«
Lachlans Puls ging regelmäßig. Ganz im Gegensatz zu Rachel selbst zeigte sich der Seelenwächter unbeeindruckt von dem Schrecken, der vor ihnen stand. Sie löste Lachlans Hand langsam von ihrer Hüfte und legte seine Finger auf die Tunnelwand. Rachel drückte sie auf das Kreuz, das – wie sie inbrünstig hoffte – dort aufgemalt war. Für einen kurzen Moment schien Lachlan nicht zu verstehen, dann wandte er seinen Blick unauffällig zur Wand, nur um unter seiner Hand ein Kreuz zu finden und daneben noch eines und noch eines.
»Wir sprechen hier nicht über
ihre
letzten Augenblicke, Drusus – sondern über deine«, sagte Lachlan mit fester Stimme. Seine warme Hand drückte ihre. Dann legte er Rachel das Reliquiar in die Hände und schob sie sanft von sich. »Bleib einige Meter zurück, Rachel. Ich brauche Platz.«
Das höhnische Lachen des Dämons hallte von den Wänden wider. »Ich muss schon sagen, ich bewundere deinen Mut – auch wenn es nur der Mut der Verzweiflung ist.«
»Hör mit dem eitlen Geschwätz auf, du Ausgeburt der Hölle«, erwiderte Lachlan und ergriff sein
claidheamh mòr
mit beiden Händen. »Nimm dein Schwert und stell dich mir.«
»Wie du willst!« Bei diesen Worten schoss ein Schwall heißer Luft durch den Tunnel, begleitet von einem markerschütternden Kreischen, das Rachel das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Laut schien weder menschlicher noch tierischer Herkunft zu sein und ließ sie an etwas Böses denken, das aus den Eingeweiden der Erde gekrochen kam. Die Schwerter der beiden Männer krachten in einem leuchtenden Blitz aufeinander, und Rachel schloss die Augen.
Dann, plötzlich, war es still – und frische Luft wehte über ihr Gesicht. Rachel wagte einen kurzen Blick. Sie standen nicht mehr in dem dunklen Gang, sondern hoch oben auf einer Steinmauer, die ein schiefergedecktes Haus umgab. Sanfte Hügel und grüne Wälder erstreckten sich ringsum bis zum Horizont. Die Sonne stahl sich durch den Flickenteppich eines größtenteils bewölkten Himmels, und der Wind, der an ihren Kleidern zerrte, war kühl und feucht. Es war eine ergreifend schöne Szenerie, die geradezu darum zu betteln schien, auf Leinwand gebannt zu werden.
Lachlan und Drusus starrten einander mit gerunzelter Stirn an. Beide hatten plötzlich schulterlanges Haar und sahen seltsam … normal aus. Nichts glühte, und ihre muskulösen Arme hatten einen gesunden rosafarbenen Teint angenommen.
»Wo sind wir?«, fragte Rachel.
Lachlans Blick fiel auf den nassen grauen Wall zu seinen Füßen. »Das ist das Herrenhaus der MacGregors.«
Drusus bückte sich, hob einen losen Stein auf und drehte ihn in der Hand. »Nein, diese Befestigung ist zu massiv. Das Herrenhaus deiner Vorfahren ist heute eine moosbewachsene Ruine.«
»Nicht unbedingt.« Lachlan verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Das hängt ganz davon ab, wann ›heute‹ ist.«
»Wann?«, fragte Rachel mit hoher Stimme. »Was meinst du mit ›wann‹?«
Lachlan starrte eine Weile lang auf einen großen dunklen Fleck auf den Steinen vor dem Haus, dann wanderte sein Blick hinüber zu den üppigen grünen Hügeln. Ein wehmütiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Heute ist der siebzehnte Mai sechzehnhundertdrei.«
»Wir sind im siebzehnten Jahrhundert? Wie ist das möglich?«
»Offenbar weiß dein Liebster etwas, das wir nicht wissen«, sagte Drusus. Sein Blick kehrte zu Lachlan zurück. »Was hast du getan, MacGregor?«
Lachlan stand groß und breit da, mit nackter Brust und flatterndem Kilt, das
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