Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
ihr bestimmt bereits als kleines Kind wichtig. Grab ein wenig tiefer, und du wirst es finden.«
Rachel drückte ihn dankbar. Ihr Seufzen war fast unhörbar und nicht für Lachlans Ohren bestimmt, doch es entging ihm nicht, als sie sagte: »Darf ich dich behalten?«
Lachlan schloss die Augen. In seinem Herzen hallte ihre Frage wider. Leider kannte er die Antwort.
Nachdem Lachlan fort war, kehrte Rachel zu den angefangenen Illustrationen zurück, doch es war Zeitverschwendung. Lachlans Frage dröhnte in ihren Ohren: Was wünscht sich Emily am meisten? Wow. Was für eine Mutter musste sie sein, dass sie nicht wusste, wovon ihr Kind träumte? Sie hielt Grant oft vor, dass er seine eigene Tochter nicht kannte, aber war sie selbst auch nur einen Deut besser? Grant hatte wenigstens eine Entschuldigung: Er lebte in einer anderen Stadt. Rachel dagegen wohnte mit Em unter einem Dach – sah sie jeden Morgen beim Frühstück, aß zu Abend mit ihr, sagte ihr gute Nacht. Wie konnte sie so etwas Wichtiges nicht wissen?
Mit sechs Jahren hatte Em davon geträumt, Flügel zu bekommen und eine Fee zu werden. Mit neun hatte sie sich dringend ein Pony gewünscht. Aber jetzt? Die Wünsche, die sie äußerte, beschränkten sich auf Konzerttickets oder neue Ohrringe. Oder diese verdammte Tätowierung, die sich Em letzten Monat hatte stechen lassen wollen. Aber der größte Wunsch ihrer Tochter konnte doch nicht etwas derart Profanes wie eine Tätowierung sein.
Rachel warf einen Blick auf das Hühnchen. Es begann sich braun zu färben. Langsam wurde es Zeit, dass sie sich um die restliche Mahlzeit kümmerte. Sie stellte die Herdplatte unter den Kartoffeln an, öffnete den Kühlschrank und nahm neben den Zutaten für einen Salat auch Butter und Milch für die Kartoffeln heraus. Die Milchtüte war fast leer. Rachel steckte den Kopf aus der Küche und rief: »Em?« Keine Antwort. Sie schüttelte den Kopf, ging den Flur entlang zu Ems Zimmer und trat ein. Ihre Tochter lag auf dem Bett und las ein Buch, die Kopfhörer des MP 3-Players in den Ohren. Um auf sich aufmerksam zu machen, erhob Rachel die Stimme. »Em, kannst du bitte schnell in den Supermarkt gehen?«
»Ich lese.«
»Das sehe ich. Aber wir haben keine Milch mehr. Magst du nicht kurz welche holen?«
Em kaute an ihrer Unterlippe. Es war Tag zehn des zweiwöchigen Hausarrests, und soweit Rachel wusste, war Em seit dem Ausflug zum Jahrmarkt nirgendwo anders als zu Hause oder in der Schule gewesen. Die Aussicht, die Wohnung zu verlassen, wenn auch nur für eine Besorgung, musste verlockend sein.
Und tatsächlich steckte Em ein Lesezeichen in den jüngsten Teil ihrer Vampirsaga und krabbelte aus dem Bett. »Na gut.«
Fünf Minuten später war Rachel allein in der Wohnung und schnitt Tomaten und Gurken für den Salat. Die Standuhr schlug zur halben Stunde, und mit diesem Schlag schoss eine Idee durch Rachels Kopf – eine, die sie nicht wieder abschütteln konnte. Dies war die Gelegenheit, einen Blick in Ems Zimmer zu werfen. Alles, was Em ihr Eigen nannte, befand sich dort: ihr Mantel, ihre Schuhe, ihre Schultasche, einfach alles. Wenn Rachel in Erfahrung bringen wollte, was sich Em am meisten wünschte – war dies nicht der beste Ort, danach zu suchen? Rachel legte das Gemüsemesser zur Seite und trocknete die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie holte tief Luft. Dann huschte sie zum Zimmer ihrer Tochter und drückte die Tür auf.
Von der Schwelle aus ließ sie den Blick langsam durch den Raum schweifen und betrachtete das vertraute, postapokalyptische Chaos. Kleidungsstücke und Müll lagen überall verstreut. Das Bild auf der Kommode sprang Rachel ins Auge: ein Familienfoto von ihnen dreien, Weihnachten vor vielleicht fünf oder sechs Jahren. Sie und Grant saßen neben Emily vor dem mit Stechpalmenzweigen geschmückten Kamin daheim in Connecticut, umarmten sich und lachten, als stünden sie nicht kurz vor der Trennung. Eine Handvoll Wechselgeld, ein einzelner Ohrring und ein Fläschchen mit schwarzem Nagellack fanden sich ebenfalls auf der Kommode. Weit und breit keine Zeitschriften oder Notizen, die Anhaltspunkte hätten liefern können. Das große Doppelbett stand an der gegenüberliegenden Wand. Die schwarzen Laken waren zerwühlt, und die Daunendecke war beiseitegeschoben. An der Wand über dem Bett hingen kreuz und quer Poster von verschiedenen Gothic-Bands und -Sängern, darunter Siouxsie Sioux, The Cure und Lycia.
Im offenen Kleiderschrank waren unordentlich
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