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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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spürte die Finsternis, die an ihren Seelen fraß, an ihren ebenso wie an der seinen, spürte das schwere Joch ihres Versagens, das seit jenem schrecklichen Tag auf ihren Schultern lastete. Und er erkannte, dass Rilcaron und die übrigen Ältesten einst anders gewesen waren, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der sie die flehend ausgestreckte Hand eines Bedürftigen nicht achtlos und mit versteinerten Mienen zur Seite geschlagen hätten; eine Zeit, in der die Güte ihres Wesens nicht hinter düsteren Mauern eingeschlossen gewesen war, kein schwaches, kränkliches Totenflackern, sondern ein sanfter, wärmender Schein, der alle Elfen und Wesen des Kleinen Volkes mit Liebe und Zuversicht erfüllt hatte. Warum nur hatte er das früher nicht gesehen? Rilcaron, Tigarain und der Rest der Ältesten waren längst nicht mehr die anbetungswürdigen, weisen Lichtgestalten, als die er sie in seiner Vorstellung noch immer wahrgenommen hatte. Sie waren hartherzig, verbittert und ohne Hoffnung – so wie er selbst.
    „Ionosen war der Einzige, der nicht davongelaufen ist“, fuhr Maifell mit zitternder, tränenerstickter Stimme fort. „Er wollte seine Schuld begleichen. Und wie habt ihr es ihm gedankt? Statt ihm dabei zu helfen, Ogaire zur Rechenschaft zu ziehen, habt ihr es vorgezogen, euch im Hain zu verstecken und ängstlich auf den Tag zu warten, an dem ihr erneut verraten werden könntet. Deshalb musste Ionosen allein in die Menschenwelt gehen und seine Familie und sein Volk im Stich lassen. Ihr glaubt, Ionosen habe euch verraten, so wie Ogaire euch verraten hat?“ Maifell lachte bitter auf. „Das war kein Verrat! Ihr habt ihn dazu getrieben, weil ihr ihm nicht zugehört, ihm nicht vertraut habt. Und erst vor wenigen Stunden hat Ionosen sein Leben geopfert, um Andion zu beschützen. Denkt ihr wirklich, er hätte das getan, wenn nicht das Überleben des Hains auf dem Spiel gestanden hätte? Denkt ihr so schlecht von ihm, dass ihr glaubt, er hätte für eine billige Rache alles aufgegeben, was ihm jemals etwas bedeutet hat?“ Sie schluchzte. „Ihr habt sein Opfer damals mit Füßen getreten, und jetzt tut ihr es wieder!“ Sie wies mit einer heftigen Geste auf Andion. „Dort liegt der Junge, für den Ionosen in den Tod gegangen ist! Und ihr steht hier und würdet keinen Finger rühren, um sein Sterben zu verhindern! Hat Ogaire euren Willen bereits so sehr gebrochen, dass ihr euch lieber freiwillig in eure Gräber legt und auf euer Ende wartet, als noch an Hoffnung zu glauben?“ Maifells schmerzumflorter Blick wurde beschwörend. „Andion ist unsere Hoffnung. Ionosen hätte ihm niemals den heiligen Namen gegeben, wenn es nicht so wäre. Ich weiß nicht, wie er uns helfen, wie er den drohenden Verfall des Hains aufhalten kann, aber eines weiß ich genau: Wenn wir ihm unsere Hilfe jetzt verweigern, wenn wir ihn nicht mit all unserer Kraft unterstützen, ist das Volk der Elfen so gewisslich dem Untergang geweiht, wie die Nacht dem Abend folgt. Ionosen wusste das. Versucht doch bitte nur noch dieses eine Mal, an ihn zu glauben. Vertraut eurem Propheten, so wie ihr ihm früher vertraut habt. Ich bitte euch!“
    Ihr schmaler Körper erbebte, ihre Stimme erstickte in einer Welle des Kummers und des Schmerzes.
    Niemand rührte sich. Für einen langen, qualvollen Moment schien die Zeit stillzustehen, war Maifells gramerfülltes Schluchzen das einzige Geräusch in der Stille, die sich bedrückend und schwer wie ein Leichentuch auf sie niedersenkte. Neanden starrte auf die verkrümmte, von Weinkrämpfen geschüttelte Gestalt des Mädchens vor sich am Boden, dann in die Gesichter Rilcarons, Tigarains und der anderen Ältesten. Er bemerkte kaum, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten, wie sich seine Lippen zu einem schmalen, harten Strich zusammenpressten, als heiße Wut in ihm zu lodern begann. Warum, bei allen Bäumen, taten sie nichts? Wie konnten sie einfach nur dastehen und zusehen, wie Maifell in ihrem Schmerz ertrank? Gerade Maifell, die mehr als jeder andere versuchte, das Leid ihres Volkes zu lindern, die Tag für Tag in selbstloser Hingabe und oft bis weit über die Grenzen ihrer körperlichen und seelischen Erschöpfung hinaus gegen das Sterben des Hains und seiner Bewohner ankämpfte, hatte ein derartiges Tribunal am wenigsten verdient.
    Neanden holte tief Luft, streckte seinen Rücken durch – und traf seine Entscheidung. Ohne den Rat der Ältesten, Gairevel und die übrigen Elfenkrieger auch nur eines einzigen

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