Wächter des Elfenhains (German Edition)
sickerte in seine Glieder, betäubte jeden seiner Gedanken, und ihm war, als presse er noch immer den zerschmetterten Leichnam Ionosens an seine Brust, als sei alles, was danach geschehen war, nichts weiter als ein seltsamer, surrealer Traum gewesen, nur die geisterhafte Illusion eines Lebens, das zusammen mit dem geschändeten Körper in seinen Armen gestorben war. Obwohl er natürlich wusste, dass es nicht sein Vater war, der dort niedergestreckt vor ihm lag, sondern lediglich der Sohn der Kreatur, die ihn ermordet hatte, vermochte er sich nicht von der Stelle zu rühren, erbebte hilflos im Würgegriff seiner Trauer und seiner Furcht. Selbst das leise Flüstern der Blätter im warmen Sommerwind und das Rascheln und Knistern der Vögel, Spitzmäuse und Eichhörnchen in den Büschen und Sträuchern am Waldrand war verstummt; die einzige Bewegung auf der Lichtung stammte von den winzigen Gestalten der Sylphen und Blütenfeen, die zögernd, beinahe ängstlich herbeikamen und sich jammernd und wehklagend an Andions reglosen Körper schmiegten.
Erst eine neue Stimme brach die Starre, ließ sie wie dünnes Glas zerspringen.
„Was hast du getan?“
Neanden zuckte zusammen und wandte sich um, versuchte verzweifelt, seine wirbelnden Gedanken zu ordnen und seinen rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen, doch ehe er auch nur ein einziges dahingestammeltes Wort der Erklärung an der Enge in seiner Kehle vorbeizuzwingen vermochte, war Maifell bereits an ihm vorbei auf die Lichtung gestürmt. Sachte, aber bestimmt scheuchte sie die Feen und Sylphen beiseite, noch vorsichtiger drehte sie Andion auf den Rücken und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Für einen kurzen Moment glitt ihr Blick in die Ferne - nur um gleich darauf um so intensiveren Zorn zu versprühen.
„Bist du jetzt endlich zufrieden?“, herrschte sie ihn an. „Ist deine Mordlust endlich gestillt? Dann kannst du dir auf die Schultern klopfen, Neanden. Du hast ganze Arbeit geleistet. Ich weiß nicht, ob selbst meine Kräfte ausreichen, um sein Leben diesmal zu retten!“
Neanden starrte benommen auf Andion herab, sah Maifell kaum. Nur langsam sickerte der Sinn ihrer Worte zu ihm durch, dann spürte er, wie auch in ihm der Zorn zu lodern begann. Glaubte sie tatsächlich, er wäre nach allem, was geschehen war, noch immer darauf aus, Andion zu töten? Kannte sie ihn wirklich so wenig? Sah sie nicht mehr in ihm als ein blutgieriges Monstrum, das danach lechzte, seinen Rachedurst zu befriedigen? Doch was wäre eine solche Rache wert, wenn er damit alles, wofür sein Vater sein Leben gegeben hatte, mit Füßen trat?
„Ich war das nicht“, presste er dumpf hervor. Hätte er nur einen winzigen Deut lauter gesprochen, hätte er wohl geschrien. „Er lag schon so da, als ich hier ankam.“
„Aber er wurde angegriffen!“ Maifell schaute wild von ihm zu Andion und wieder zurück. Ihre Stimme zitterte vor Wut, doch Neanden spürte auch die Furcht, die darunter lag. „Fühlst du es nicht, Neanden? Fühlst du nicht die Schändung, die an seinem Leib und seiner Seele begangen wurde?“ Das Zittern in ihrer Stimme wurde stärker. „Es ist, als sei das Leben förmlich aus ihm herausgequetscht worden! Als hätte ihm jemand ...“
Sie stockte, und ihre Augen weiteten sich voller Entsetzen, als sie begriff.
Neanden sprach ihren Verdacht aus. Es schmerzte ihn, dass sie erst jetzt darauf gekommen war. „Ogaire. Er muss ihm aufgelauert haben.“
Und so wie es aussah, war ihm Andion tatsächlich erst in der sprichwörtlichen letzten Sekunde durch die Klauen geschlüpft. Beinahe widerwillig registrierte er die Erleichterung, die er darüber empfand.
„Du hättest ihn niemals allein zurücklassen dürfen!“ Maifells Zorn war wie ein Messer, das ihm tief in die Seele schnitt. Zum ersten Mal spürte er in ihren Worten die Verachtung, vor der er sich immer gefürchtet hatte, und obwohl er nach dem Tod seines Vaters geglaubt hatte, über diese Art von Sehnsucht hinweg zu sein, tat ihre Ablehnung doch weh. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.
„Hätte ich meinen Vater allein zurücklassen sollen? Ihn einfach vergessen und in der Menschenwelt verrotten lassen sollen?“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Hatte er nicht ein Recht darauf, nach all den Jahren endlich heimzukehren? Ich dachte, gerade du würdest das verstehen!“
Maifell machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dein Vater ist tot, Neanden. Andion lebt. Hättest du Ionosens Leichnam nicht
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