Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
Vom Netzwerk:
schaurigen Saugrüssel monströser Insekten durch ihre Augen und ihre Ohren in ihren Schädel gedrungen und hatten zu fressen begonnen. Obwohl sie schon seit Langem tot waren, konnte Andion noch immer das Grauen und die Panik spüren, die sie empfunden hatten, als die schwammigen, bleichen Tentakel anfingen, das Leben aus ihnen herauszuschlürfen, als das Fleisch auf ihren Knochen zu welken und ihre Haut wie verkohlter Speck auf der Pfanne zu zischen begann. Er wusste, sie hatten geschrien, hatten gezuckt wie Würmer auf einem Angelhaken, und doch hatte ihnen der Tod keine Erlösung gebracht. Ihre Seelen waren gefangen, waren verschmolzen mit dem widerwärtigen Holz und den Wurzeln und Blättern des Baumes, schwammen hilflos in der fauligen Dunkelheit ihres Kerkers wie die Blütenblätter von Rosen, die in einem Fluss voller Tierkadaver langsam in Richtung Unendlichkeit trieben. Sie würden niemals frei sein – genau wie er selbst.
    Plötzlich sah er eine Bewegung im trüben Dämmerlicht. Eine Gestalt trat hinter dem titanischen Stamm der Eiche hervor, eine Gestalt mit Augen, die wie grünes Feuer in der Düsternis loderten. Langsam, beinahe feierlich breitete Ogaire seine Arme aus. Seine Stimme klang zärtlich, liebkosend, strich schmeichelnd und sanft wie vergiftete Seide über seine Haut.
    „Andion! Geliebter Sohn! Lass deine Freunde nicht länger warten. Sie sind so einsam ohne dich!“ Ogaire lächelte; Haifischzähne schimmerten blutig und rot im grauen Totenlicht.
    Mit einem gellenden Schrei fuhr Andion zurück, schlug wild mit den Fäusten um sich – und sprengte die Ketten aus Dunkelheit, die ihn umschlossen hielten. Grelles Licht brannte sich in seine Netzhäute, als er jäh die Augen aufriss, und das Echo seiner Schreie hallte noch immer wie leises, höhnisches Gelächter in seinen Ohren nach, während sich sein Magen bereits in neuer Panik zusammenzog. Denn mit dem Erwachen kam die Erinnerung.
    Ionosen, Esendion, Alisera und seine Mutter waren tot. Er war allein. Und Ogaire war noch immer hinter ihm her!
    Verzweifelt versuchte er, sich aufzurichten. Er musste sofort in den Hain. Nur dort war er sicher.
    Doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Schwäche schien wie flüssiges Blei seine Adern zu füllen, nagelte ihn mit unerbittlicher Gewalt am Boden fest, und noch immer tanzten bunte Flecke vor seinen Augen, sodass er kaum etwas um sich herum zu erkennen vermochte.
    Was, bei allen Bäumen, war nur geschehen? Wie kam er hierher – wo auch immer hier sein mochte? Denn wo er sich auch befand, eins war gewiss: Es war nicht der Elfenhain. Er konnte sich nicht daran erinnern, die Grenze überschritten zu haben.
    Neue Furcht fraß sich in sein Herz, ließ seinen Puls in die Höhe schnellen und das Blut in seinen Ohren rauschen. Abermals versuchte er, den Panzer aus Schwäche zu durchdringen, wieder ohne Erfolg.
    Da legte sich ihm plötzlich eine Hand auf die Schulter, eine sanfte, fürsorgliche Berührung, begleitet von einer Welle gütigen Mitgefühls, die warm wie eine zärtliche Liebkosung über ihn hinwegstrich. Trotzdem erschrak er zutiefst.
    „Hab keine Angst. Du bist jetzt sicher.“
    Obwohl Andion keinerlei Feindseligkeit in der Stimme spürte, kämpfte er weiter, und endlich gelang es ihm, wenigstens den Schleier vor seinen Augen zu zerreißen.
    Ein Mädchen war bei ihm. Sie sah noch sehr jung aus, jünger als er selbst, aber das täuschte vermutlich, denn ihre schmalen Züge, ihre deutlich hervortretenden Wangenknochen und ihre Augen, die so hell und intensiv strahlten wie Quellwasser an einem warmen Sommermorgen, verrieten ihre Herkunft. Sie war ein Elf.
    „Wer ... wer bist du?“, flüsterte Andion. Selbst das Sprechen fiel ihm schwer.
    Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn, und sogleich spürte er, wie heilende Kräfte seinen Körper durchströmten und zumindest einen Teil der Bleigewichte, die ihn so qualvoll zu Boden drückten, aus seinen Muskeln spülten. Dankbar atmete er auf.
    Sie zog ihre Hand zurück und schaute ihn fragend an. „Ist es so besser?“
    Andion nickte stumm. Er verschränkte seinen Blick mit dem ihren, tauchte ein in die faszinierenden blauen Tiefen ihrer Augen, während er mit klopfendem Herzen auf ihre Antwort wartete.
    Sie lächelte, strich sich in einer unbewussten Geste durch ihr langes, golden schimmerndes Haar. „Ich bin Maifell de’Sionne.“
    „Bin ich im Hain?“
    „Ja. Ogaire kann dich nun nicht mehr erreichen.“
    Andion schloss die Augen, wartete auf die

Weitere Kostenlose Bücher