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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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zu stoßen drohte.
    Andion straffte seine Schultern. Ian tat, was immer er tun wollte, aus Gründen, die nur er allein kannte. Er hatte seine Entscheidung bereits vor vielen Jahren getroffen – und er selbst ebenfalls, ansonsten hätte er Ians Hilfe nicht stets so bereitwillig akzeptiert und zugelassen, dass die Brücke, die sich über den Abgrund zwischen ihm und seiner Mutter spannte, mehr und mehr von Lüge und Täuschung und bedrückendem Schweigen an ihrem Platz gehalten wurde. Denn trotz all seiner Selbstgeißelung wusste er eines genau: Auch wenn seine aufgeplatzte Lippe, das Blut und seine geprellten Rippen die kalte, schonungslose Wahrheit seines Lebens offenbarten, so barg doch selbst die armseligste, schäbigste Lüge noch ein winziges Fünkchen Hoffnung, Hoffnung, die er noch nicht bereit war, endgültig verlöschen zu lassen. Und so hob er trotzig den Kopf, ließ sein Gesicht vom warmen Licht der Sonne berühren und folgte seinem Vormund schweigend durch die belebten Straßen der Stadt.
    Wie jedes Mal, wenn wieder eine ihrer kleinen Vertuschungsaktionen anstand, gingen sie dazu in den Park. Ian hatte ihm nie erklärt, warum das so war, vielleicht wusste er es selbst nicht, doch seine heilerische Gabe war am stärksten, wenn er von Bäumen umgeben war. Als sie zwischen den hohen Stämmen der Eichen verschwanden und sicher waren, dass sie nicht mehr von zufällig durch die Parkanlage schlendernden Spaziergängern beobachtet werden konnten, holte Andion tief Luft. Es schien, als könnte er zum ersten Mal an diesem Tag wirklich frei durchatmen. Dennoch vermied er es, seine Umgebung, so angenehm sie ihm auch war, genauer zu betrachten. Für heute hatte er bereits genug huschende Schatten und flüchtige Zauberwesen gesehen.
    Ian sagte kein Wort, auch nicht, als sie sich zwischen den knorrigen Wurzeln einer uralten Eiche auf dem weichen Moos niederließen und er mit der Heilung begann. Andion schloss die Augen, als die Hände seines Vormunds über sein Gesicht glitten, und genoss die prickelnde Wärme, die von Ians Handflächen auf seine Haut überging und wie ein reinigender Frühlingsregen Schmerz und Schmutz mit sich forttrug. Innerhalb von Minuten gingen die Schwellungen zurück, und sogar der Riss in seiner Lippe schloss sich so vollständig, als sei er niemals da gewesen.
    Anschließend machte sich Ian daran, auch die Prellungen und Blutergüsse auf Bauch und Rippen zu heilen. Andion hielt die Augen noch immer geschlossen. Als die Schmerzen in seinem Körper nach und nach verschwanden, ergriff eine wohlige Müdigkeit von ihm Besitz, und er wünschte, er könnte sich einfach im warmen Moos ausstrecken und schlafen, den wundervollen Moment noch ein wenig länger genießen, auch wenn er natürlich wusste, dass er sich nur deshalb so gut fühlte, weil sie aufgrund seines Versagens wieder einmal gezwungen waren, seiner ahnungslosen Mutter Sand in die Augen zu streuen und sie über die hässlichen Geschehnisse des heutigen Morgens hinwegzutäuschen. Aber auch dieser Stachel schien plötzlich merkwürdig fern, wurde davongespült von der herrlichen Entspannung, die ihn durchströmte.
    Ian riss ihn unsanft aus seiner schläfrigen Stimmung.
    „Dein Direktor hat in einem Punkt recht.“
    Andion schlug erschrocken die Augen auf. Es kam nicht oft vor, dass Ian Mr. Perry zustimmte.
    Sein Vormund sah ihm fest in die Augen. Er war der Einzige, der das vermochte, der Einzige, der dabei niemals Furcht, Abscheu oder auch nur einen Funken Unverständnis empfand. Es war, als würde Ian ihn durch und durch kennen.
    „Du darfst dich nicht wehrlos diesen Schlägern ausliefern. Vergiss nie, dass ich nur kleine Wunden heilen kann.“
    Andion sah zu Boden. „Das weiß ich.“
    „Wirklich? Warum sitzen wir dann so oft hier? Du weißt, dass du die drei ohne Mühe besiegen könntest.“
    „Ich ... möchte niemanden verletzen.“
    „Das würdest du nicht. Du bist stark genug, um selbst zu entscheiden, auf welche Weise du den Menschen begegnest, die Gewalt in dein Leben zu bringen versuchen. Du würdest einen Weg finden.“
    Andion schwieg.
    Ian beugte sich leicht vor und legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter. „Aber darum geht es gar nicht, nicht wahr?“
    Das friedvolle Verständnis, das in Ians Stimme mitschwang, schnürte Andion die Kehle zusammen. Tränen stiegen in ihm hoch. Nur mit Mühe konnte er sie zurückhalten.
    „Ich habe doch gar keine Wahl“, erwiderte er gepresst. „Du weißt doch, wie sie mich

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