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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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Scheitern verurteilt gewesen. Dabei war es nicht einmal so sehr Ians ruhige, ausgeglichene Art, die ein ums andere Mal verhinderte, dass seine Mutter schreiend vor ihm die Flucht ergriff oder sich bei seinem Anblick zitternd wie ein verängstigtes Tier in eine Zimmerecke duckte. Viel bedeutsamer war die erstaunliche Fähigkeit seines Vormunds, durch bloßes Handauflegen kleinere Wunden zu heilen.
    Andion senkte den Kopf. Schon oft hatte er von Menschen gehört, die sich selbst großspurig als Wunderheiler bezeichneten, und obwohl einige von ihnen vermutlich tatsächlich über ein gewisses Talent verfügten, Dinge zu bewirken, die von der konventionellen Medizin gemeinhin als unmöglich erachtet wurden, waren doch die meisten zweifellos nichts weiter als Scharlatane, die die Leute mit billigen Taschenspielertricks um ihre letzten Ersparnisse zu bringen versuchten.
    Ian war anders. Vielleicht war es gerade die Schlichtheit dessen, was er tat, das völlige Fehlen jeglichen Pathos und pompöser, theatralischer Gesten, die seine Gabe zu so etwas Besonderem machte. Er verlor nie viele Worte darüber, und auch Andion hatte gelernt, Ians heilerische Fähigkeiten als selbstverständlichen Teil seines Lebens zu betrachten.
    Wie immer, wenn er sich dieser Tatsache bewusst wurde, drohte ihm vor Kummer und Scham über seine armselige Existenz schier das Herz zu zerspringen, und fast meinte er, das leise, gramerfüllte Schluchzen seiner Mutter in der stillen Sommerluft zu hören und ihr bleiches, verhärmtes Gesicht mit den großen, braunen Augen vor sich zu sehen, deren Blick voller Furcht und stummem Vorwurf auf ihm ruhte. Denn mochte Ian auch mit seinen verblüffenden Kräften alle Spuren der Gewalt beseitigen können, so wussten sie doch beide, dass sie lediglich eine Lüge lebten.
    Andion spürte, wie ihm der Hals eng wurde. Er brachte keinen Frieden und keine Heilung, weder für andere noch für sich selbst; er war nicht wie Ian. Er war nichts als ein Schmarotzer, ein Parasit, der gierig das Licht verschlang, um nicht an der Dunkelheit in seinem eigenen Herzen ersticken zu müssen. Doch je mehr er sich auf die Stärke seines Vormunds stützte, je heller das Licht strahlte, mit dem er die Finsternis zu vertreiben versuchte, desto unbarmherziger wurde das Kainsmal enthüllt, das bereits im Augenblick seiner Zeugung bis in die winzigste Zelle seines Körpers gebrannt worden war. Das ganze fragile Gleichgewicht ihrer seltsamen kleinen Familie stand und fiel einzig mit Ians Fähigkeit, etwas vorzutäuschen, was nicht existierte. Ohne seine ständige Hilfe wäre schon nach wenigen Tagen schmerzhaft offenkundig geworden, wie sehr das verderbte Erbe seines Vaters in seiner Seele wucherte, wie sehr Aggression und Wahnsinn von ihm emanierten wie Hitze, die von einem heißen Stück Kohle ausging, und stets nur das Schlechteste in den Menschen hervorbrachten, die von der dunklen Gegenwart seines Wesens besudelt wurden. Manchmal schien es Andion, als seien Ian und er lediglich zwei Seiten derselben Münze, so verschiedenartig wie die Nacht und der Tag und doch von einem merkwürdigen Schicksal zueinandergeführt, Komplementärfiguren in einem bizarren Drama, das sie seit 17 endlosen Jahren in einem Kreislauf aus Lüge und Gewalt gefangen hielt.
    Er presste stumm die Lippen aufeinander. Es lag eine bittere Ironie darin, dass er sich sein ganzes Leben lang nach den mythischen Elfenreichen aus Ians Geschichten verzehrt und Trost aus der Schönheit und den Wundern ihrer imaginären Existenz geschöpft hatte und gleichzeitig vor dem wahren Wunder, der wirklichen Schönheit zurückschreckte wie ein Vampir, der ins Antlitz der aufgehenden Sonne blickte. Zweifellos, die Natur hatte sie beide überreichlich mit ihren Gaben beschenkt, doch während Ian durch seine Fähigkeiten zu einem besseren, wertvolleren Menschen wurde, wirkte er mit seinen eigenen absonderlichen Schrullen wie eine groteske Parodie all dessen, was dem menschlichen Dasein Größe und Bedeutung verlieh und es zu mehr machte als einer willkürlichen Ansammlung von Fleisch und Knochen und Geweben, die zufällig ein Bewusstsein hervorgebracht hatte. Und trotzdem hatte sich sein Vormund rückhaltlos auf seine Seite gestellt und verschwendete seine kostbaren Kräfte an den Sohn eines wahnsinnigen Psychopathen, der nichts Besseres zu tun hatte, als sich immer wieder in wüste Prügeleien verwickeln zu lassen und seiner gramgebeugten Mutter damit ein ums andere Mal ein Messer ins Herz

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