Wächter des Elfenhains (German Edition)
Voraussicht und Instinkt wäre er vermutlich schon als Kind von seinem blutrünstigen Vater massakriert und seine zerstückelte Leiche in einem schmutzigen Hinterhof an die Hunde verfüttert worden. Doch Ian hatte sie stets rechtzeitig in Sicherheit gebracht.
Nachdenklich betrachtete Andion seine hochgewachsene, schlanke Gestalt und das ausdrucksstarke Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den sanften Augen, in deren unendlichen blauen Tiefen die Güte und Weisheit ganzer Generationen verborgen zu liegen schien. Sein Haar schimmerte wie Gold in der Mittagssonne, und obwohl er die Vierzig bereits deutlich überschritten haben musste – schätzte Andion, da sein Vormund niemals über sich und seine Vergangenheit sprach -, zeigte sich noch nicht einmal die winzigste Spur einer grauen Strähne darin. Auch in jeder anderen Hinsicht hatte das Alter es ausgesprochen gut mit ihm gemeint, andererseits jedoch wäre vermutlich niemand ernsthaft auf die Idee gekommen, Ian als jung zu bezeichnen.
Vielleicht lag es an seinen Augen oder an der würdevollen, aristokratischen Gelassenheit, die mit jeder seiner Bewegungen von ihm ausstrahlte, oder an der eigenartigen Gewissheit, dass Ian Muldoon auf alle Fragen des Lebens bereits eine Antwort gefunden hatte. Was es jedoch auch immer war, was seinen Vormund zu solch einer außergewöhnlichen Erscheinung machte, unterm Strich zählte nur eins: Er würde ihn niemals verlassen. Er war an seiner Seite von Anfang an, seit seinem ersten krähenden Atemzug, und er würde ihn sicher durch alle Riffe und Untiefen führen, die sein Schicksal für ihn bereithielt.
Andion atmete tief durch, dann senkte er schuldbewusst den Blick.
„Du ... du wirst meiner Mutter nichts davon sagen, oder?“
Eigentlich war es keine Frage, und natürlich schüttelte Ian sofort den Kopf.
„Nein, gewiss nicht.“
Ein einziges Mal war seine Mutter von einem Schulleiter über einen ähnlichen Vorfall wie dem heutigen in Kenntnis gesetzt worden. Sie hatte eine Woche lang nur noch geweint. Seitdem trat Ian Muldoon in jeder neuen Stadt und an jeder neuen Schule als sein gesetzlicher Vormund und Ansprechpartner für die Lehrer auf. Offiziell existierte seine Mutter gar nicht mehr. Und leider war das nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt.
„Wir müssen noch die Spuren der Schläge beseitigen“, sagte Ian ruhig.
Andion nickte stumm. Auch dies war ein Ritual, das ihn seit seiner frühesten Kindheit begleitete, eine weitere wortlose Übereinkunft zwischen Ian und ihm, die zerbrechliche Seele seiner Mutter nicht noch tiefer in die blutige Hölle der Vergangenheit hinabzustoßen, in der sie seit 17 qualvollen Jahren lebte. Denn eins wusste er genau: Ihr in seinem jetzigen Zustand gegenüberzutreten, mit seinen widerwärtigen grünen Augen, die so sehr denen seines Vaters glichen, mit seiner aufgeplatzten Lippe und dem Blut, das noch immer an seinem Kinn klebte, und in einem leisen, zaghaften Aufflackern kindlicher Sehnsucht darauf zu hoffen, von ihr liebevoll in den Arm genommen oder mit heißem Kakao und Keksen über die erlittenen Schmerzen hinweggetröstet zu werden, wäre eine naive und gefährliche Selbsttäuschung gewesen. Ebenso gut hätte er pfeifend und mit einer blutigen Axt über der Schulter und dem abgetrennten Kopf eines Säuglings unter dem Arm durch die Tür spazieren können; die Wirkung wäre vermutlich die gleiche gewesen.
Andion seufzte leise. Sie würde niemals etwas anderes als seinen Vater in ihm sehen, auch wenn er sich selbst das Herz aus der Brust reißen und für das Leben eines kranken Kindes hergeben würde, nur um ihr zu beweisen, dass nicht alles an ihm schlecht und verderbt war. Dass auch er ein guter Mensch sein konnte. Aber sie war zu sehr in der Vergangenheit gefangen, zu sehr von Entsetzen und Grauen erfüllt, um bei seinem Anblick etwas anderes als Furcht zu empfinden. Er hoffte so sehr, dass unter diesem Panzer aus Angst noch andere Gefühle vorhanden sein mochten, Zuneigung, vielleicht sogar so etwas wie Liebe, wie zart und zerbrechlich auch immer, doch er wusste, dass er sich damit vermutlich nur selbst belog. Vielleicht hatte er auch gar nicht das Recht, mehr zu erwarten, schließlich erinnerte sie seine bloße Gegenwart jeden Tag ihres Lebens an das Monstrum, das ihren Leib und ihre Seele geschändet hatte. Das Einzige, was ihm blieb, war, ihr Leid durch seine Unbesonnenheit nicht noch weiter zu vergrößern.
Dennoch wären seine Bemühungen ohne Ian von Anfang an zum
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