Wächter des Elfenhains (German Edition)
nicht sicher, ob sie auch in der Lage gewesen wären, ihn aufzuhalten.“
Andion schluckte. „Ist Ogaire wirklich so mächtig?“
Ian zögerte, suchte offenbar nach den richtigen Worten. „Es ist im Grunde nicht das Ausmaß seiner Macht, das ihn von den anderen unterscheidet. Jeder Elf verfügt über die gleiche magische Kraft, doch wozu er sie einsetzen kann, darüber entscheidet allein sein Wille. Ogaire verfolgte seine Ziele mit großer Entschlossenheit, und es gab keinerlei Skrupel, die seinen Willen hätten schwächen können. Er glich einem Dolch, der, einmal geworfen, unbeirrbar seinen tödlichen Kurs beibehält. Deshalb war er damals schon mächtiger als alle anderen Elfen. Sie ahnten ja nicht einmal etwas von seinen finsteren Plänen.“
„Sie haben gar nichts gespürt?“ Andion runzelte die Stirn. Das war seltsam. Eigentlich hätten sie dazu in der Lage sein müssen. Jeder Elf besaß die Fähigkeit, auf empathischem Weg die Gefühle und Absichten eines anderen wahrzunehmen, so hatte Ian es ihm zumindest erzählt.
Doch Ian schüttelte den Kopf. „Ogaire hatte sich in einen schützenden Zauber gehüllt, der die Sinne der anderen Elfen verwirrte und seine wahren Absichten vor ihnen verbarg. Sie sahen nur das, was er ihnen erlaubte zu sehen. Sie sahen lediglich die glänzende Oberfläche, nicht den fauligen Kern, der darunter lag.“
„Jahrhunderte lang?“, rief Andion fassungslos. Denn so lange hatten Ogaires Studien der Schwarzen Magie gedauert, so lange hatte er das finstere Ritual vorbereitet, in dessen Verlauf er sein Kind getötet hatte, so viel wusste er bereits.
Ian hob die Schultern. „Jahrzehnte, Jahrhunderte, das spielte für jemanden wie Ogaire keine Rolle.“
Andion erschauerte. „Sein Wille muss wirklich sehr stark gewesen sein.“
„Das war er.“ Ians Gesicht verhärtete sich, wirkte beinahe wie aus Stein gehauen. „Außerdem war er der Wächter des Hains. Er konnte sich tagelang aus der Gemeinschaft zurückziehen, ohne dadurch das Misstrauen der übrigen Elfen zu erregen. Im Gegenteil wirkte er, je öfter er allein durch den Wald streifte, nur um so mehr wie jemand, der ganz von der Bedeutung seiner heiligen Pflichten durchdrungen war, tatsächlich jedoch stieg er schon damals in die Abgründe schwärzester Magie hinab.“
Andion dachte kurz nach, erinnerte sich an all die Geschichten, die Ian ihm früher erzählt hatte. Eine besondere Figur tauchte darin immer wieder auf: Ionosen, der Prophet. Er war für die Elfen so etwas wie ein Schamane, ein heiliger Mann, der sein Leben vollkommen dem Schutz der Elfen und des Hains verschrieben hatte. Und er verfügte über eine besondere Gabe, eine, die es selbst unter so magischen Geschöpfen, wie es die Elfen waren, nur äußerst selten gab. Ionosen konnte in die Zukunft sehen, oder besser gesagt, er konnte mit seinem Geist die Fülle von Wahrscheinlichkeiten erspüren, die die Zukunft für die Elfen und den Hain bereithielt. Doch auch Ionosen hatte das Unglück nicht aufhalten können.
Gedankenversunken streichelte Andion den Schwan, der still neben ihm lag und ihn aufmerksam beobachtete. „Was ist mit Ionosen? Er war doch ein Prophet. Hätte er Ogaires Pläne nicht durchschauen müssen?“
Ian sah ihn nicht an, sein Blick glitt noch weiter in die Ferne. „Er konnte es nicht. Ogaire hatte Ionosens seherische Gabe mit einem Zauber getrübt, sodass sie ihm das gleiche trügerische Bild vermittelte, das auch alle anderen von Ogaire hatten.“
„Aber konnte er denn nichts dagegen tun? Konnte er den Zauber nicht brechen?“
„Dazu hätte er ihn erst einmal bemerken müssen. Aber das hat er nicht. Keiner der Elfen hat erkannt, dass sie allesamt unter Ogaires Einfluss standen, und so konnte sein teuflischer Plan gedeihen, ohne dass sie ihm die Stärke ihres eigenen Willens entgegenzusetzen vermochten.“
Andion sah zu Boden. Um so bitterer musste die Wahrheit sie getroffen haben, als Ogaire den Zauber schließlich auflöste. Besonders Ionosen, denn Isirada, die Elfenfrau, die Ogaires Sohn empfangen hatte und von ihm getötet worden war, war die Schwester des Propheten gewesen. Wie furchtbar musste es für ihn gewesen sein, sie wie ein Stück Vieh dahingeschlachtet vorzufinden. Vermutlich hatte er niemals aufgehört, sich für sein eigenes Versagen zu hassen.
„Ich verstehe das nicht“, murmelte Andion. „Ich verstehe nicht, wieso die Elfen nicht einmal versucht haben, Ogaire zur Rechenschaft zu ziehen.“ So eine schreckliche
Weitere Kostenlose Bücher