Wächter des Elfenhains (German Edition)
seine Haltung nicht veränderte, spürte Andion, wie sich Ian innerlich versteifte. „Nein. Nicht einmal er wäre dazu in der Lage, selbst dann nicht, wenn er zuvor die komplette Einwohnerschaft Oakwoods niedermetzeln und sich ihre magischen Kräfte einverleiben würde. Die menschliche Magie ist zu unterentwickelt und schwach, um so etwas bewirken zu können.“
Andion fuhr sich nervös mit der Zunge über die trockenen Lippen. Ians angespannte Miene machte unmissverständlich klar, dass dennoch kein Grund bestand, die Sektkorken knallen zu lassen. Da war noch etwas, irgendein verborgenes Fallbeil, das nur darauf wartete, herabzusausen, Andion spürte es genau. „Aber?“
„Ogaire kannte längst einen Weg, der es ihm ermöglichen sollte, die Magie eines anderen Elfen zu stehlen. Allein deshalb hat er den Hain überhaupt verlassen.“
„Was hat er getan?“
Ians Gesicht blieb ausdruckslos, doch als er sprach, klang seine Stimme dumpf, als fürchte sie den Schrecken, der seinen Worten unausweichlich folgen musste. „Er suchte sich eine Frau - eine menschliche Frau - und zeugte mit ihr ein Kind. Dieses Kind war halb Elf, halb Mensch. Es verfügte über große magische Kraft - das war Ogaires Erbe -, doch das Menschenblut zwang diese Macht in einen tiefen Schlummer. Neugeborene Elfen sind sich ihrer Umgebung und ihrer Magie sofort in vollem Umfang bewusst, Menschenkinder dagegen sind anfangs eher wie Träumer. Ihr Geist erwacht erst nach und nach, und so vermochte auch das Kind weder etwas von den Fähigkeiten, die seit dem Augenblick seiner Geburt ein Teil von ihm waren, noch von seiner wahren Herkunft in sich zu spüren.
Anders als bei anderen Elfen war die magische Kraft dieses Kindes jedoch nicht fest in ihm verwurzelt, sondern glich mehr einem Blatt, das, ungebunden und ohne durch die bewussten Absichten und Ziele seines Willens in eine bestimmte Form gepresst zu werden, in seinem Lebensstrom schwamm. Aus diesem Grund hätte Ogaire, hätte er dem Kind seine Lebenskraft entzogen, auch gleichzeitig seine Magie in sich aufgenommen – die gesamte Magie eines anderen Elfen -, und seine eigene Macht wäre auf einen Schlag verdoppelt worden. Danach wäre er mühelos in der Lage gewesen, den Zauber der Ältesten zu brechen. Er hätte in den Hain zurückkehren und jedem einzelnen Elfen seine Magie entreißen können. Auf diese Weise wäre er das mächtigste Wesen auf Erden geworden, so mächtig, dass er alle menschlichen Nationen mit einem Augenzwinkern hätte niederwerfen und sich zum Gottkaiser der Menschheit hätte aufschwingen können.“ Ian hob die Schultern. „Du siehst, die übrigen Elfen und der Hain waren letztlich vollkommen bedeutungslos für Ogaire. Sie waren lediglich ein Mittel zum Zweck, um sein eigentliches Ziel zu erreichen.“
Andion starrte Ian voll Grauen an. Kalte Klauenhände schienen seine Kehle zusammenzupressen.
„Aber er hat es nicht getan, oder? Er hat sein zweites Kind nicht getötet und ihm seine Magie geraubt.“
Geschichte oder nicht, in diesem Moment hätte ihn keine Macht der Welt davon überzeugen können, dass Ogaire nicht real war – und dass er die Menschen längst in einen Haufen willenloser Sklaven verwandelt hätte, wären seine Pläne aufgegangen.
Zum ersten Mal, seit er zu sprechen begonnen hatte, sah Ian zu ihm herüber, aber seine Augen blickten durch ihn hindurch, waren noch immer in weiter Ferne verloren. Doch wenigstens wurde sein Gesicht nicht noch starrer. Es wirkte ohnehin bereits so grau und spröde wie ein Stück alter Schiefer, der bei der leisesten Berührung zu zerspringen drohte.
„Nein, das hat er nicht. Denn obwohl es in ihm weder Skrupel noch Mitleid gab, die ihn von seinem gierigen Streben nach Macht hätten abhalten können, hatte Ogaire doch eines nicht bedacht. Er hat nicht damit gerechnet, dass ihm ein anderer Elf folgen könnte.“
„Ionosen“, flüsterte Andion.
Ian nickte. „So ist es.“
Andion schüttelte ungläubig den Kopf. „Und der Rat war damit einverstanden?“ So wie Ian die Ältesten bislang in seinen Geschichten beschrieben hatte, klang das wenig wahrscheinlich.
„Nein. Sie glaubten dem Propheten noch immer nicht, obwohl seine Zukunftsvisionen immer unheilvoller und düsterer wurden. Im tiefsten Inneren hatten sie den Untergang ihres Volkes und des Hains wohl längst als unvermeidlich akzeptiert. Auch ohne Ogaire versank die Welt der Elfen mehr und mehr in Vergessenheit, verblasste wie eine alte Fotografie aus längst
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