Wächter des Elfenhains (German Edition)
könnten noch ein wenig im Park spazieren gehen.“
Andion stimmte sofort zu. Nach den qualvollen Stunden, die er im Betonkorsett seiner Schule eingezwängt gewesen war, wären ein wenig frische Luft und Natur genau die richtige Medizin, um sich zumindest für einen kurzen Augenblick aus dem Würgegriff seiner Selbstzweifel zu befreien und die schlingernde Amokfahrt seines inneren Gleichgewichts in ruhigere Gewässer zurückzulenken.
Sachte setzte er die Kaninchen, die es sich auf seinem Schoß bequem gemacht hatten, auf den Boden. Die Eichhörnchen benutzten seinen Kopf als Sprungbrett zum nächsten Baum, gingen jedoch nicht, ohne ihn ein letztes Mal neckisch in den Haaren zu ziehen.
Andion schaute ihren fröhlich wippenden Schweifen noch einen Moment lang lächelnd hinterher, ehe er sich mit einem eigentümlichen Gefühl des Bedauerns von ihnen abwandte. Die Tiere des Waldes waren ihm bessere Freunde, als es andere Menschen wohl jemals sein konnten, denn sie scheuten ihn nicht. Vielleicht sollte er das als gutes Zeichen werten. Wäre er genauso ein wahnsinniger Unhold wie sein Vater, würden sie ihm doch gewiss eher das Gesicht zerkratzen oder ihm fauchend ihre Zähne und Krallen ins Fleisch bohren, statt sich an ihn zu kuscheln und genüsslich von ihm hinter den Ohren kraulen zu lassen, oder?
Der Gedanke war ermutigend, zudem konnte er selbst seinen Teil dazu beitragen, dass der Irrsinn ihn nicht mit Haut und Haaren verschlang, wenn er denn schon so beharrlich an seine Tür zu klopfen beliebte. Er durfte eben einfach für eine Weile nicht mehr an die magischen Geschöpfe des Elfenhains denken. Das waren nur Geschichten, Märchen, nicht mehr. Er täte sicher gut daran, sich mit Ian über so handfeste Angelegenheiten wie Politik und Wirtschaft zu unterhalten, statt ihn ständig um neue Erzählungen aus dem Reich der Fantasie zu bitten.
Nur leider interessierte ihn Politik so gar nicht, und von Wirtschaft hatte er erst recht keine Ahnung. Und so kam es, dass sein guter Vorsatz bereits nach wenigen Minuten auf eine harte Probe gestellt wurde. Denn während sie langsam die kieselbestreuten Wege entlangschlenderten, hatten ihre Schritte sie ganz wie von selbst zu dem Weiher geführt, der, eingehüllt von Bäumen auf der einen und Büschen auf der anderen Seite, wie ein großes, sanft blickendes Auge das Herz des Parks bildete. Zwei Schwäne zogen majestätisch ihre Bahnen über das smaragdgrüne Wasser, hoben jedoch sofort ihre schlanken Hälse, als Andion sich dem Ufer näherte.
Ohne Hast, aber auch ohne Zögern, schwammen sie auf ihn zu und neigten ihre anmutigen Köpfe vor ihm, so als wollten sie ihn begrüßen. Andion streckte die Hand nach ihnen aus, streichelte beide, und ganz selbstverständlich nannte er sie in Gedanken bei ihren Namen: Esendion und Alisera, zwei Elfen, die einst beschlossen hatten, ihre elfische Gestalt abzulegen und als Schwäne in der Welt der Menschen zu leben – eine weitere Geschichte aus Ians unerschöpflichem Fundus mythischer Erzählungen.
Andere Menschen hätten den Schwänen vermutlich einen Kanten Brot mitgebracht, doch Andion wäre nie auf die Idee gekommen, den beiden wundervollen Geschöpfen irgendwelche alten Essensreste hinzuwerfen. Damit hätte er sie auf die Stufe bloßer Tiere herabgewürdigt. Doch waren sie nicht genau das: Tiere?
Seufzend ließ er sich ins Gras sinken. Er schaffte es einfach nicht. In seinem Kopf spukten zu viele der bunten Geschichten über Elfen, Feen, Sylphen und Dryaden herum, als dass er sie auch nur für eine halbe Stunde aus seinen Gedanken hätte verbannen können.
Alisera, der weibliche Schwan, musterte ihn mit wachen Augen, die sein Dilemma zu verstehen schienen. Als sei es das Natürlichste auf der Welt, kam sie aus dem Wasser und ließ sich neben ihm im Gras nieder. Mit einer graziösen Bewegung legte sie den Kopf auf ihre Flügel, steckte ihn jedoch nicht ins Gefieder, und auch ihre Augen blieben offen und aufmerksam.
Ihr Gefährte Esendion schien unschlüssig, ob er Aliseras Beispiel folgen sollte, doch nach einem kurzen Blick zu Ian, der es sich mittlerweile ebenfalls auf der sommerwarmen Wiese bequem gemacht hatte, wandte er sich vom Ufer ab und kehrte zur Mitte des Sees zurück, wo er alsbald erneut seine Runden zu ziehen begann. Seine Haltung wirkte nun weniger königlich, sondern glich eher der angespannten Wachsamkeit eines Soldaten, der weiß, dass sich seine Feinde gerade in diesem Moment zum Angriff formieren, und während
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