Wächter des Elfenhains (German Edition)
seinen Geschichten und seiner erstaunlichen Fähigkeit, ihn immer wieder aus seinen selbst verschuldeten Schwierigkeiten herauszuholen? Trotz all seiner Versuche, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren, war Ian bis heute ein Rätsel für ihn geblieben, und auch wenn er ihm blind vertraute, konnte Andion doch nicht die Augen vor der bitteren Tatsache verschließen, dass Ians Entscheidungen letztlich herzlich wenig mit ihm selbst zu tun hatten. Einmal hatte er ihn direkt gefragt, warum, zum Teufel, seine Mutter und er eigentlich so verdammt wichtig für ihn waren. Ian hatte ihm lediglich geantwortet, er müsse eine alte Schuld begleichen, doch dem Ausdruck in seinen Augen nach war es eher eine alte Rechnung. Eins war völlig klar: Ian hasste seinen Vater - was wirklich bemerkenswert war. Normalerweise wäre Andion nämlich jede Wette darauf eingegangen, dass Ian gar nicht fähig war zu hassen.
Mit einem leisen Seufzer machte er sich daran, die kurze Treppe zum ersten Stock hinaufzusteigen. Es waren kaum ein Dutzend Stufen, doch wie stets begann sein Herz bereits nach der Hälfte von ihnen schmerzhaft gegen seine Rippen zu wummern, und seine Beine wurden schwerer und schwerer, als steckten sie in zähem Morast, der ihn unerbittlich in die Tiefe zu ziehen versuchte. Seine Hand umklammerte das Treppengeländer, und wie jedes Mal spürte er beinahe augenblicklich die Ruhe und sanfte Stärke, die von dem rauen Holz auf ihn überströmte.
Andion atmete tief durch und öffnete seinen Geist für die Kraft und die Gelassenheit, die wie ein kühlender Lufthauch von allen Seiten über ihn hinwegstrichen. Natürlich war auch dies eine Segnung, die er allein Ian zu verdanken hatte. Sofort nach dem Kauf des Hauses hatte sein Vormund dafür gesorgt, dass sämtliche Innenräume, soweit es nur irgendwie möglich gewesen war, mit einer warmen, hellen Eichen- und Kiefernholztäfelung verkleidet worden waren. Das vermochte die quälende Enge, die sich beim Betreten eines Gebäudes wie ein Schraubstock um seine Brust und seine Kehle schloss, zwar nicht vollständig zu beseitigen, ebenso wenig wie es die feurigen Krallen von Stahl und Metall gänzlich davon abhielt, sich in seine Seele zu graben, aber es war eine größere Erleichterung, als Andion jemals zu hoffen gewagt hatte. Außerdem – vielleicht am wichtigsten von allem – half es ihm, die düstere Wolke aus Angst und Schwermut, die überall, in jedem Zimmer, selbst hier im Treppenhaus in der Luft schwebte, zumindest ein klein wenig von sich abgleiten zu lassen. Es gab ihm die Kraft, Tag für Tag der Wärme und dem Licht den Rücken zu kehren und einzutauchen in die kalte, trostlose Welt, die am oberen Ende der Treppe auf ihn wartete.
Grimmig presste er die Zähne zusammen und zwang seine bleiernen Glieder auf die nächste Stufe. Tiefe Stille umgab ihn. Sie wurde durch nichts gebrochen, nicht durch Musik, nicht durch leise Stimmen aus dem Fernseher oder dem Radio, nicht durch Schritte oder die geschäftigen Geräusche häuslicher Arbeit. Ein Fremder hätte ihr Haus, hätte er es betreten, gewiss für verlassen gehalten.
Aber es war nicht verlassen – im Gegenteil. Doch die Anwesenheit seiner Mutter war für einen gewöhnlichen Besucher schon lange nicht mehr zu spüren. Sie konnte die Räume nicht mit mehr Leben füllen, als ein körperloses Gespenst es vermocht hätte. Manchmal schien es Andion, als sei sie tatsächlich nur noch ein Geist, nur ein flüchtiger Schatten, der sich jeden Moment in einem verirrten Lichtstrahl in Nichts auflösen konnte.
Er schluckte hart, und seine Hände zitterten, als er den Schlüssel ins Schloss schob und zweimal herumdrehte. In anderen Häusern wäre das vermutlich nicht nötig gewesen, doch seine Mutter schloss die Tür zum Treppenhaus stets ab. Und an ganz schlechten Tagen schloss sie sich in jedem der kleinen Räume ein.
Als er die Tür öffnete, bot sich ihm das gewohnte Bild. Seine Mutter saß im geräumigen Flur, der beinahe wie ein Wohnzimmer eingerichtet war, in einem Sessel, natürlich mit dem Rücken zur Wand, natürlich mit dem Gesicht zum Eingang. Die Türen zu den anderen Zimmern standen offen, damit sie stets prüfende Blicke hineinwerfen konnte, und alle Fenster waren mit schweren, dunklen Gardinen verhängt, sodass in den Räumen selbst an hellen Sonnentagen ein dumpfes, totes Zwielicht herrschte.
„Hallo, Mom“, sagte er leise.
Sie sah zu ihm auf, kurz, doch immerhin zeigte sich heute keine Furcht auf ihrem Gesicht.
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