Wächter des Elfenhains (German Edition)
Andion wagte es, erleichtert aufzuatmen.
Reglos wie ein Wasserspeier stand er in den düsteren Schatten und schaute ihr einen Moment lang mit klopfendem Herzen zu. Sie stickte; das tat sie immer. Ihre Hände bewegten sich dabei fast wie in Trance, waren ruhig und sicher, doch Andion wusste es besser. Er kannte die Panik und das Entsetzen, die dicht unterhalb der Oberfläche lauerten. Denn legte sie Nadeln und Garn auch nur für wenige Sekunden beiseite, begannen ihre Finger sofort zu zittern, ihre Schultern sanken ein, und ihre Augen zuckten gehetzt hin und her wie die eines verschreckten Vogels.
Vielleicht wäre es anders gewesen, wäre sein Vater damals gefasst und eingesperrt worden, aber das war nie geschehen. Ian hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass kein Polizist der Welt ihn verhaften und kein Gericht der Welt ihn verurteilen könnte, weil er zu viel Macht und Einfluss besaß. Und so konnte nichts die Angst mildern, so blieb ihnen nichts als ständige Flucht und Wachsamkeit.
Stumm betrachtete Andion die schmale Gestalt seiner Mutter, wie sie in der trostlosen Düsternis in ihrem alten, abgewetzten Sessel saß und mit verzweifelter Intensität auf ihre Hände starrte, die ihre neueste Stickarbeit hielten, und das Herz wurde ihm schwer. Sie war so zart, so zerbrechlich! Ihr langes, schwarzes Haar umrahmte ihr bleiches Gesicht wie ein Trauerflor, ließ sie endgültig wirken wie einen Geist, der durch die verfallenen Ruinen seines Lebens wandelte, ohne zu bemerken, dass er schon seit vielen Jahren gestorben war.
Dabei war sie erst 33 Jahre alt. Grauen und hilflose Wut schnürten ihm die Kehle zusammen, wenn er daran dachte, wie jung sie gewesen war, als sein Vater sie in seiner Gewalt gehabt hatte. Monatelang! Es schien fast wie ein Wunder, dass sie den Klauen seines wahnsinnigen Erzeugers am Ende doch noch entronnen war.
Aber ihr Leben war auch so ziemlich das einzige, was sie hatte retten können. Ihre Seele jedoch war zerbrochen, war von der Grausamkeit seines Vaters unwiderruflich in Trümmer geschlagen worden, Andion spürte es genau. Tag für Tag spürte er, wie sie in Angst und Dunkelheit ertrank, spürte die kalten Klauen, die sie packten und in die Vergangenheit zurückrissen, kaum dass sie ihre Hände nicht mehr mit sinnloser Arbeit beschäftigte. Wie gern hätte er ihr geholfen, wie gern hätte er ihr einen Rettungsring zugeworfen und sie ins Licht zurückgezogen. Doch er wusste nicht wie. Schon seine bloße Gegenwart trieb die Dornen der Qual tiefer in ihr Herz. Je länger er ihr Gesellschaft leistete, je länger er bei ihr sitzen blieb, desto häufiger sah sie auf, immer mehr mit Furcht, immer mehr mit dem Gefühl, nicht ihm, sondern seinem Vater gegenüberzusitzen.
Andion wischte sich verstohlen eine Träne von der Wange. Im Grunde konnte er froh sein, dass sie ihn nicht gleich nach der Geburt in einen Sack gestopft und in irgendeinem See ersäuft hatte. Mehr konnte und mehr durfte er nicht erwarten.
Schließlich zog sich Andion still in sein Zimmer zurück. Die nächsten Stunden verbrachte er damit, über der Strafarbeit zu brüten, die ihm Mr. Colegrave aufs Auge gedrückt hatte, grimmig entschlossen, dem fetten Geschichtslehrer nicht noch einmal Gelegenheit zu geben, ihn vor der versammelten Klasse zum Gespött zu machen und sich als Zielscheibe für seine boshaften kleinen Spielchen missbrauchen zu lassen. Er würde ihm beweisen, dass er mehr war als ein weltfremder Fantast, dem es nicht gelang, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten, der selbstvergessen vor sich hin sabbernd in seinem Erdhügel hockte und sich mit seinem Pfeifenkraut sein debiles Hirn vernebelte.
Er presste wütend die Lippen zusammen. Was für ein Teufel hatte ihn nur geritten, ausgerechnet über Ians Geschichten zu schreiben? Wie hatte er ernsthaft glauben können, irgendein anderer könne auch nur ansatzweise die Schönheit und erhabene Größe erkennen, die in jedem ihrer Worte verborgen lagen, oder einen Hauch der schrecklichen Tragik empfinden, die ihm beim Gedanken an das unwiederbringliche Dahinschwinden der einst so gewaltigen und stolzen Elfenreiche vor Kummer schier das Herz zerspringen ließ? Er hätte niemals so leichtfertig von sich auf andere schließen dürfen, obwohl er sich natürlich in seinem Aufsatz sehr allgemein gefasst hatte. Doch dem unberechenbar schnappenden Maul von Mr. Colegraves Bosheit noch mehr von den Wundern und Geheimnissen der Elfenhaine und der mythischen Welt der
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