Wächter des Elfenhains (German Edition)
aufgehört, auf das Gute in den Menschen zu vertrauen. Menschen und Elfen könnten so viel voneinander lernen, wenn sie nur bereit wären zuzuhören.“
Andion nickte bedächtig. Einen Moment lang hingen sie beide schweigend ihren Gedanken nach, dann hob er den Blick und schaute Ionosen an.
„Ich habe mich immer gefragt, warum du uns ausgerechnet in so ein mickriges Kaff geschleppt hast. Das Land ist groß, und es hätte viele größere Städte gegeben, wo wir uns besser hätten verstecken können. Aber du hattest keine Wahl, nicht wahr?“
Ionosen schüttelte den Kopf. „Nein, die hatte ich nicht. Es war abzusehen, dass das Erbe deines Vaters bald in dir erwachen und der Hain dich zu sich rufen würde. Du musstest in der Nähe des Tors sein, denn ist der Ruf erst einmal erfolgt, bleibt dir nicht viel Zeit.“
Andion erschrak. „Wie viel?“
„Nur ein paar Stunden. Gemessen an der Lebensspanne eines Elfen bist du kaum mehr als ein Neugeborenes, das gerade aus dem Bauch seiner Mutter hervorgekommen ist und zum ersten Mal aus eigener Kraft zu atmen begonnen hat, und jetzt, da das elfische Blut in dir erwacht ist, bedürfen dein Körper und dein Geist der stärkenden Zuwendung des Hains. Folgst du dem Ruf nicht bis spätestens morgen früh, wirst du verwelken wie eine Blume ohne Wasser.“
„Das heißt, ich werde sterben.“
„Ja.“
Andion atmete tief durch, versuchte den harten Knoten der Furcht zu lockern, der sich plötzlich in seinem Magen gebildet hatte – und erstarrte, als sich unvermittelt eine grauenvolle Erkenntnis in sein Herz grub.
„Ogaire weiß ebenfalls von dem Zugang!“
Ionosen nickte. „Ja. Das ist etwas, das ein Elf immer spüren wird.“
Andion keuchte auf. Eine Woge aus Eiswasser schien durch seinen Schädel zu schwappen, betäubte jeden seiner Gedanken und ließ nur eine einzige entsetzliche Gewissheit zurück. „Er ist bereits hier, nicht wahr? Hier in Oakwood!“
Ionosen hob den Arm, wollte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legen. Andion zuckte zurück. Ionosen seufzte leise. „Das ist er. Er kam nur wenige Wochen nach uns in die Stadt.“
Andion starrte ihn voll Grauen an. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, versuchten vergeblich, das Zittern zu unterdrücken, das seine Zähne wie im Fieber aufeinanderschlagen ließ.
„ Zwei Jahre ? Ich habe zwei Jahre Tür an Tür mit diesem Monstrum gelebt und habe es nicht gewusst?“ Das Zittern verstärkte sich, vibrierte wie das höhnische Lachen eines boshaften Gottes durch seinen Körper, verspottete ihn für seine Dummheit und kindliche Naivität, mit der er sich selbst von der lächerlichen Illusion hatte überzeugen wollen, dass es vielleicht doch einen Ort geben könnte, an dem er sicher war, wo die gierigen Augen seines mörderischen Vaters ihn niemals finden würden. Andererseits – und die unbestreitbare und zwingende Logik dieses Gedankens ließ das Hohngelächter in seinem Inneren jäh verstummen – hatten sie das offensichtlich auch nicht.
Sein Herzschlag beschleunigte sich; er fuhr sich aufgeregt mit der Zunge über seine trockenen Lippen, und ein zaghaftes Lächeln glitt über seine Züge. „Ogaire weiß nicht, wo ich bin, stimmt’s? Die ganze Zeit über hockt er wie eine fette Spinne irgendwo in der Stadt und wartet darauf, dass ich an seinem Netz kleben bleibe!“ Die intuitive Erkenntnis einer erstaunlichen Wahrheit vertrieb die Kälte der Furcht aus seinen Gliedern und ließ ihn wieder ruhiger atmen. Forschend sah er Ionosen an. „Aber das tue ich nicht, weil du im Gegensatz zu ihm genau weißt, wo die Spinne ihr Nest hat, nicht wahr? Du weißt, wo sich Ogaire aufhält!“
Ionosen nickte. „Ja. Obwohl ich zugeben muss, dass er es mir nicht leicht gemacht hat. Am Anfang, als er noch geglaubt hat, in der Menschenwelt schalten und walten zu können, wie es ihm beliebte, war er weniger sorgfältig darauf bedacht, seine Spuren zu verwischen, doch nachdem ich deine Mutter und dich aus seiner Gewalt befreit hatte, ist er vorsichtiger geworden. Aber zum Glück musste ich mich nicht allein auf meine prophetische Gabe verlassen.“
Andion runzelte die Stirn.
Ionosen lächelte, als er die Verwirrung auf seinem Gesicht sah. „Vergiss nicht, dass es mittlerweile fast 90 Jahre her ist, seit ich den Hain verlassen habe. Seitdem verfolge ich Ogaire, und in dieser Zeit bin ich mit der Welt der Menschen recht vertraut geworden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Die meisten Privatdetektive sind ziemlich gut
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