Wächter des Elfenhains (German Edition)
Opferbereitschaft.
Sie durchdrang die Schwärze, die Andion gefangen hielt, berührte etwas tief in seiner Seele. Ians Worte, die ihm noch in der Nacht rätselhaft und verwirrend erschienen waren, hatten nun ihre wahre Bedeutung offenbart. Nun wusste er, was Ian aufgegeben hatte – und warum.
Andion schluckte mühsam, versuchte, seine Tränen unter Kontrolle zu bringen. Er musste sich zusammenreißen, er musste sich der Wahrheit stellen. Sich ihr zu verweigern, hieße, all die Opfer, die Ian gebracht hatte, mit Füßen zu treten.
Mit einem verzweifelten Aufbäumen seines Willens riss er sich aus seiner Apathie, hob den Kopf und sah Ian an. Ians tiefblaue Augen begegneten seinem Blick stumm.
„Ionosen“, flüsterte Andion.
Ionosen neigte bestätigend den Kopf.
Andion atmete tief durch, sammelte Kraft für seine nächsten Worte. Als er den Mund öffnete, spürte er, wie das Zittern seiner Hände auch auf seine Stimme übergriff. „Ich ... ich bin kein Mensch.“
Ian seufzte leise. „Nur zur Hälfte.“
„Ich bin ein Elf.“
„So wie dein Vater.“
Unvermittelt hatte Andion das Gefühl, in eine unendliche Dunkelheit zu stürzen. Das Schicksal besaß einen wahrlich grausamen Humor. Da hatte er jahrelang seinen realen Vater mit einer fiktiven Märchenfigur verglichen und Trost in dem Gedanken gefunden, dass kein Mensch so abscheulich und verderbt sein konnte wie Ogaire, nur um jetzt zu erfahren, dass er die Begriffe real und fiktiv genau falsch herum verwendet hatte. Sein realer Vater war nichts weiter als eine Illusion gewesen, ein Trugbild, das nun unter dem Ansturm der Wirklichkeit zerbarst.
„Ogaire. Ogaire ist mein Vater!“, hauchte er.
Ionosen nahm ihn sanft bei den Schultern, sah ihn voller Mitgefühl an. „Ich wünschte, ich könnte dir hier widersprechen, doch leider kann ich es nicht. Es ist wahr.“
Andion schluchzte auf. Alle Kraft, die noch in seinen schmerzenden Muskeln steckte, schien auf einen Schlag ins Nichts zu verpuffen, ließ ihn wie eine Marionette mit zerschnittenen Fäden vollends zu Boden sinken. Einen endlosen Moment lang lag er einfach nur da, presste beide Hände auf die Augen und rang mit der nackten Panik, die wie ein Schwert aus Eis durch seine Seele fuhr, seine Gedanken und seinen Körper lähmte. Wieder spürte er Ians tröstende Berührung auf seiner Schulter, ein Anker, der ihm half, sich aus der Kälte und Dunkelheit zurück ins Licht zu ziehen. Er holte ein paar Mal tief Luft, dann nahm er langsam die Hände von seinen Augen und blickte in Ians kummervolles Gesicht.
Ionosen neigte den Kopf; seine sanften blauen Augen waren dunkel vor Gram, und als er sprach, klang seine Stimme spröde, war erfüllt von Bitterkeit und Schmerz, einem Schmerz, den er all die Jahre vor ihm verborgen gehalten hatte. „Es tut mir wirklich leid, Andion. Ich wollte dich nicht anlügen.“
Andion winkte ab und schnitt eine Grimasse, von der er hoffte, dass sie als Lächeln durchgehen würde. „Du musst mir nichts erklären, Ian, und du musst dich erst recht nicht bei mir entschuldigen. Ich bin froh, dass du dein kleines Geheimnis so lange für dich behalten hast.“
Wahrhaftig, er hätte es wirklich keine Sekunde früher erfahren wollen, obwohl natürlich längst nicht alle Dinge, die Ian ihm verschwiegen hatte, mit Ogaire und seinen teuflischen Plänen zu tun hatten. Dennoch wäre der Horrortrip seines Lebens mit Sicherheit noch um einiges Furcht einflößender und bedrohlicher gewesen, hätte er von Anfang an die Wahrheit über seinen Vater gekannt. Selbst an der Lüge hatte er bereits schwer genug zu schleppen gehabt, doch sie hatte ihm zumindest ein paar wenige gnadenvolle Momente der Entspannung gegönnt.
Andererseits – der Gedanke durchbrach die Dunkelheit und das Entsetzen wie ein unerwarteter Streifen blauen Himmels die düsteren Wolken eines heraufziehenden Gewitters und ließ ihn innerlich erbeben – hatten sich mit Ians schockierender Enthüllung viele seiner Ängste, die ihn noch Minuten zuvor gequält hatten, im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst.
Sein Herz begann plötzlich schneller gegen seine Rippen zu schlagen, und unvermittelt füllten sich seine Augen mit Tränen, als er zaghaft den Kopf hob und zum ersten Mal seit seinem unfreiwilligen Tänzchen mit dem LKW seine Umgebung wieder bewusst wahrnahm.
Sofort hob leichter Wind an, zupfte ihm verspielt an den Haaren und wisperte seinen Namen, und hinter den Bäumen des Parks sah er die uralten,
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