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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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spürte, wie ihre Lebensflamme mit jedem Tag, der verstrich, schwächer und kraftloser wurde, wie der Tod mit jedem Sonnenuntergang ein kleines Stückchen näher gerückt war, eine hungrige Ratte, die sich durch ihren Körper fraß, die Blut und Fleisch und Knochen verschlang und nur eine leere, faulige Hülle zurücklassen würde.
    Doch noch war es nicht soweit, ebenso wenig wie bei den anderen fünf Patienten, die wie halb mumifizierte Leichen in ihren Sarkophagen entlang der Wände des Krankenzimmers aufgereiht waren. Bei einigen hatte man die eitrigen Geschwüre auf ihrer Haut mit dickem Mull umwickelt, anderen Kanülen mit Infusionsschläuchen in die dürren Gliedmaßen gebohrt; es war ein lächerlicher Versuch, mit Hilfe von absurden Maßnahmen ihr armseliges Leben um ein paar weitere nutzlose Tage oder Wochen verlängern zu wollen, das sinnlose Bemühen, einen Brand zu löschen, der schon längst außer Kontrolle geraten war.
    Ogaire kümmerte es nicht. Gleichgültig ließ er seinen Blick über die Reihe der Sterbenden wandern. Diejenigen, deren verlöschender Geist noch genug Kraft besaß, um seine Anwesenheit zu bemerken, drehten schwach ihre Köpfe und sahen mit trüben Augen zu ihm hin, und sofort spürte er, wie die Herzen in den verdorrten Leibern schneller zu schlagen begannen, wie sein Anblick allein genügte, um ihr sieches Fleisch in neuer, verzweifelter Hoffnung erbeben zu lassen. Selbst jetzt noch, wo der Geruch von Krankheit und Tod trotz der halb geöffneten Fenster bereits wie ein unsichtbares Leichentuch über ihren Betten schwebte, war ihr Vertrauen in ihn unerschütterlich.
    Er kannte sie alle, hatte sie begleitet vom Tag ihrer Einlieferung ins Oakwood General Hospital, hatte sie – manche mehr als einmal – in seinen Operationssaal gerollt und mit dem grässlichen chirurgischen Metzgerwerkzeug dieser Welt in ihren Innereien herumgepanscht, hatte sie mit Medikamenten gemästet und Chemikalien in sie hineingepumpt, obwohl er von Anfang an gewusst hatte, dass es keine Rettung für sie geben würde.
    Aber das spielte keine Rolle. Ob sie sich auf ihrem Weg in den Abgrund an jeden winzigen Strohhalm klammerten und sich bis zum letzten Atemzug aus der Umarmung des Todes herauszuwinden versuchten oder sich schicksalsergeben ins Unvermeidliche fügten, am Ende würden sie alle seinen Zwecken dienen.
    Ein leises Wort floss über seine Lippen, und die Augen jener, deren Blicke noch einen Lidschlag zuvor voll hündischem Flehen auf ihm geruht hatten, fielen zu. Müdigkeit schwappte wie eine gewaltige Woge über sie hinweg und spülte ihren Geist in die Dunkelheit, und wenn sie in ein paar Stunden wieder daraus hervortauchten, würde die Erinnerung an Crofton Wicklows Besuch in ihrem Krankenzimmer unwiderruflich aus ihrem Gedächtnis verschwunden sein.
    Ogaire fokussierte seinen Willen neu, flüsterte ein weiteres Wort, und ein Netz aus magischer Energie hüllte sich um seine schlanke, hochgewachsene Gestalt. Gedankenschnell breitete es sich aus, erfüllte den Raum bis in den letzten Winkel mit seiner konzentrierten Präsenz. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, die ihm in den letzten beiden Jahren zur alltäglichen Routine geworden war. Jeder, der in den nächsten paar Minuten das Bedürfnis verspürte, das Krankenzimmer zu betreten, würde spätestens, wenn er seine Hand auf die Türklinke legte, unweigerlich mit seinem Zauber in Berührung kommen – und vergessen, was er gerade noch hatte tun wollen. Niemand würde mehr wissen, dass es im dritten Stock des Oakwood General Hospital überhaupt noch ein Zimmer mit der Nummer 115 gab, in dem sechs sterbende Menschen langsam ihrem Ende entgegendämmerten – nicht solange er ihren Augen nicht gestattete zu sehen. Wie stets, so würde er auch diesmal bei der Durchführung seines Vorhabens ungestört bleiben.
    Doch heute war er ausnahmsweise nicht gekommen, um zu töten. Er schaute umher, betrachtete gleichmütig die sechs abgehärmten Gestalten, die keine Hoffnung hatten, dieses Zimmer anders als in einem Leichensack noch einmal verlassen zu können, und traf innerhalb eines Wimpernschlages seine Wahl.
    Beim letzten Mal war es ein Mann gewesen; heute würde es eine Frau sein. Er entschied sich für jene, die ihm bereits beim Betreten des Raums aufgefallen war, denn ihr Tod stand unmittelbar bevor, war vermutlich nur noch eine Frage weniger Tage. Dabei war es noch nicht einmal eine Woche her, da hatte sie ihm in ihrem Bett gegenübergesessen, schwach, aber in

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